Hans-Joachim Heyer

166-173

Sterbendes Volk

Oh sterbendes Volk,
Du erträgst das Leben nicht.
Du fürchtest die neuen Wege,
Und die alten führen stets in den Tod!
Du kennst deine Führer nicht mehr.

Oh sterbendes Volk!
Deine Systeme von Recht und Ordnung;
Von Handel und Wandel,
Sind starre Bahnen aus Stein.
Sie siehst du, nicht aber die Landschaft herum.

Dein Wissen ist dein Abgrund!
Je mehr du befestigst die Bahnen,
Desto ferner sind sie vom Leben.
Schon speihst du aus die Lebendigen;
Nur deinesgleichen erträgst du noch!

Weh! Du verlangst den Beweis, Sterbender?
Beweisen soll ich, was lebt?
Tote sehen nur Totes! 
Wie könnte ich
Das Leben dir beweisen?

*

Das Blatt

Getrieben im Spiel
Unsichtbarer Winde,
Innen starr und bewegt außen:
Das gefallene Blatt
In dunkler Nacht.

O wie zittert das grüne
An seiner beständigen Quelle.
Innen bewegt und fest außen
Und sammelt das ewige Licht!
Wer bist du?

*

Das Zeichen

Mordmaschinen malten am Morgen
Zeichen des Zorns im Zenit.
Bezeugten gesprochenes Urteil;
Vollstreckten den Willen des Geldes.

Wenn Geld den Verstand leitet
Und nicht Verstand das Geld:
Das nenn‘ ich Wahnsinn.
Und er ist überall!

Wer sucht noch das ewige Leben?
Wer sucht noch die Wahrheit?
Wer sucht noch das Heilige?
Wer wartet nicht auf den Tod?

Man sagte mir, ich sei verrückt,
Denn das, was ich suche, das gäbe es nicht.
Ich solle besser suchen, was es auch sicher gebe:
Bestechung und Tod!

Wie soll ich zeigen,
Was Haß und Zorn nicht sehen können?
Sie sehen nur Spiegelbilder:
Ihre stählerne, donnernde, blitzende Welt.

*

Ewig bewußt

Gott, der du ewig bist,
Ewig und zeitlos!
Du bist bewußt deiner:
Du bist, der du bist.

So will auch ich
Ganz Gegenwart werden:
Lebendig machen Vergangenes.
Dann ist alles lebendig
Und nichts ist Sünde mehr!

*

Reiner Wille

Darf ich, Meister,
Darf ich verkünden,
Der Liebe wegen,
Was reiner Wille vermag?

Es gibt doch
Kein Geheimnis auf Erden,
nur Blinde und Taube!
So sag ich’s in Kürze,
Wie’s der Wahrheit gebührt:

Wahrheit erfinden!
In Kenntnis der Gesetze
Des Heiligen Geistes
Ersinne ich meine Gaben.