Hans-Joachim Heyer

190-196

Das Kind

Das Kind
am Straßenrand
blickte mich an
mit fragendem Auge.

Ich wartete.
Es blieb stumm,
doch sah ich die Träne
auf seinem Gesicht.

Warum weinst du?
fragte ich.
Was erwartest du?
wollte ich wissen,
doch es schwieg.

Da sprach ich
zu seiner Seele:
Du bist Schöpfer deiner selbst.
Was du siehst, ist dein.
Es gibt keinen Mangel.

„Ich will ein Eis!“
entgegnete es trotzig.

Da sah ich das 
millionenfach verästelte
Labyrinth,
die Milliarden gekappten 
Möglichkeiten,
die aus diesem Gott
ein bettelndes Kind
machten.

Ich sah den langen,
langen Weg.

190, 28.6.2002

Vorbilder

Er klagte
über die stumpfsinnig gewordenen
Eltern, wie sie
tagein, tagaus blöde
vor dem Fernseher hocken:
alkoholisiert, aggressiv, streitend
um Nichtigkeiten.

Ich sagte
Sie zeigen
an ihrem Leben,
was aus dir wird,
wenn du ihnen glaubst.
Und sei sicher:
Sie tun alles,
damit du ihnen glaubst;
sie kennen nur eine
einzige Wirklichkeit
und darin tun sie ihr Bestes!

191, 1.10.2002

Der Antiquitätenhändler

Ich traf ihn,
In seinem Geschäft
Inmitten alten Plunders,
Gebeugt über ein zerfleddertes Buch
Er beachtete mich kaum, als ich eintrat.
Schweigend musterte ich die Ware,
Entschied mich für eine Pfeffermühle
Aus altem Holz.

Hier hat der Kunde keine große Wahl!
Sagte ich angesichts des geringen Angebots.
Sie leben sicher nicht vom Erlös dieses Ladens!
Von Wert ist bestenfalls, was in den wenigen 
Feilgebotenen Büchern geschrieben steht.

Du hast es erkannt.
Ich lebe von einem jeden Wort,
Das aus meinem Munde strömt.
Denn ich bin ganz im Idealen;
Das Besondere hat mich verlassen:
Er zeigte in die Runde.

Dann bist du ein Ewiger!
Rief ich begeistert,
Ein Magier der Welt,
Meister der Zeit,
Unsterblich!

Wir gingen die Staße hinab;
Die Ladentür blieb unverschlossen.
Ich folgte ihm die Rolltreppe hinauf.
Im Speiselokal trat ein hektischer Herr ihm entgegen,
am Ohr ein Handy:
Ich habe einen wichtigen Termin!
Das Essen ist bezahlt: Bitte nehmen sie es!
Der Alte nahm es.
Wir setzten uns.
Er gab mir die erlesene Speise, den Wein.
Iß von meiner Speise, trinke meinen Wein!
Sagte er. Ich aß und trank.

Kennst du ihn?
Er gehört zum Bild der Welt.
Die Welt sah meinen Hunger,
Schickte ihn mit Speise.
Die gab ich dir.
Ich sättige mich auf andere Weise.
Entnahm seiner Tasche ein Butterbrot.

Ich diene ganz der Welt.
So dient die Welt mir.
Wir sind Spiegel einander.

Warum gabst du dich zu erkennen, Meister?
Wollte ich wissen.
Ich kam zu dir, wie die Speise zu mir:
Ein Hunger, ein Leben im Ideal gelingend.

Unser Zeichen sei die Pfeffermühle!
Würze deine Speise mit ihr 
Und mit mir dein Leben.

Sei Herr und Diener deiner Welt.
Auch du bist ein Zauberer.
Lerne und lehre.
Auch du bist im Überzeitlichen.
Erkenne es ganz, neues Blatt!

Verantwortlich für die Geschicke meiner Welt
Wirkt diese die Wunder, die mich erhalten, auf ewig.

192, 16.4.2003

Ewigkeit

Was sind Äonen?
Sind’s Jahrmillionen?
Ist’s der Augenblick,
Das immerwährende Jetzt?

Wer es weiß, lebt schon im Ewigen,
Denn Wissen ist Sein!
Wer sich nicht kennt,
Ist nicht.
Du bist, was du weißt.

Alles Gewordene ist vergänglich!
Sagen die Großen.
Ich aber bin geworden
In anderer Zeit:
Ewig!

193, 10.5.2003, v2: 11.7.03

Weltenwanderer

Abgestreift, überwunden,
Wie eine alte Schlangenhaut: 
Den Zufall,
Die große Lüge,
Die den Tod bringt
Mit Notwendigkeit!
In der neuen Welt
Voller Sinn und Zweck,
Reicht die Erinnerung weiter
Als das begrenzte Leben.
Und Erinnerungen
Werden Talente;
Erleben wird Können!
Und du fühlst
Wie Ewigkeit dich berührt,
Dich einbettet, umgarnt, verwandelt
Von der Larve zum Schmetterling.

Du weißt dann,
Was Fliegen bedeutet:
Das Sein in höherer Welt!
Innen und außen
Sind eins hier!
Schöpfer bist du,
Und Schöpfung zugleich.
Du siehst nur dich,
Sehnst dich nach Andern
Und merkst:
Ein jeder lebt blind
In seiner Blase
Und sieht stets nur sich.
Nun aber suchst du
Den Andern wahrhaftig:
Wirst Reisender
Von Welt zu Welt:
Weltenwanderer!

194, 11.5.2003

Ermahnung

Täglich die Ermahnung
Nicht enttäuscht zu sein
Von denen, die noch nicht sind,
Von Schatten in Schattenwelten,
Die meine Farbe nicht glauben,
Nur Schwarzweiß und manchmal Grau.

Ich bin nicht gekommen,
Zu retten die Welt,
Sondern einzelne Erscheinungen nur
Ins Dasein zu heben.

Sie rasen dahin
In Porsche und BMW
Auf breiten Autobahnen
Zielen entgegen, die keine sind,
Zielen, die sie nicht kennen.
Ich sehe ihre Geschäftigkeiten
Im Auftrag von Herren, 
Die sie verleugnen.

Sie kennen die Welt nicht;
Verkennen auch sich selbst,
Wissen nicht, wer für sie denkt,
Wer ihnen das Maschinengewehr
Oder den Kugelschreiber
In die Hand drückt
Und warum.

Sie denken,
Ich sei wie sie,
Fabuliere bloß vom Höheren,
Das es nachweislich nicht gebe.
Denken,
Wenn ich zaubern könnte,
Würde ich zerstören die Welt
Wie sie es täten.
Aber in Liebe zur Welt
Ermahne ich mich täglich
Nicht enttäuscht zu sein
Und auszuhalten die Schatten in 
Schattenwelten.

195, 13.5.2003

Dreieinigkeit

An einem Frühlingstag
Stand ich im Garten
Am Kastanienbaum.
Ich war Sieben.

Da fiel es mir
Wie Schuppen von den Augen:
Ich bin dieser Leib und kein Anderer,
Der Einzige, der weiß,
Was ich denke.

Es war der Tag,
An dem ich zum zweiten mal
Geboren wurde:
Ich wurde bewußt meiner!

Jahre gingen ins Land.
Ich ging zur Schule,
Arbeitete, was man mir auftrug.
Dann entdeckte ich 
Philosophie.

Jahre gingen ins Land.
Dann kam eine andere Zeit:
Die dritte Geburt.
Ich wurde mein eigener Herr,
Schöpfer meiner selbst:
Autark!

Erst jetzt
Bin ich wirklich,
Denn ich wirke
Mit freiem Willen
Bin Anfang und Ende
Der Taten
In ewiger Gegenwart
Ganz bei mir selbst
Wie selten einer:
Drei in Eins!

Macht ist
Zu wissen, was zu tun ist.

196, 18./19.5.2003