Hans-Joachim Heyer

41-64

AN DAS WEISENKIND

Willst du dir das rechte Weltbild bauen,
Mußt du denken ohne schauen.

Ohne das Gehirnverrenken,
Mußt du schauen ohne denken,

Denn wer beides stets verbindet,
Weiß nicht, was er denkt und was empfindet.

Er verwechselt Wahr und Schein,
Merkt dann nicht sein Irre-sein.


BERGESSCHLUCHT
*
ein Löwe
auf dem Berg
bin ich
*
und hinter dem See
auf dem Berg
sitzt der Freund
*
schwindlig
bin ich
schwindlig
ist er
und ich scheue
das Wasser
und er scheut
das Wasser
das dunkle
grundlose
unbekannte
*
nur im Traume getaucht
findet sich alles
inmitten des einen
reinen Sees


DAS WORT
*
Im Wort
Ist Wahrheit
Ich deut‘ den Sinn der Worte
Denn ihr Sinn ist ihr Sein
*
Worte
Sind wie Bäume
Gewachsen aus der Seele
Ihre Verschlingungen in den Wipfeln
Zeugen kein neues Leben
Wohl aber die Samen
Die ruhen im Grund


ALL-EIN
*
Vollkommen
Wollt‘ ich sein
Mich ganz begreifen
So macht‘ ich
Vergangenheit und Zukunft
Zur Gegenwart
Mir
*
Nun leb‘ ich
Wie’s Kind
Im Augenblick gefangen
Ohne Erinnerung
Ohne Zukunft
*
Ich Zeitloser
Den Andern
Verfallen dem Wahne
Lebendiger Toter

*
Ich aber fühle
Mich Gott nahe
Allein
Wirklich
Eins mit dem All
*
Gelassen
Von der
Innigen Welt
Der Geliebten


WORTE

*
Worte
Erstarrte Gedanken
Dem Vollkommnen entrissen
Ding geworden
*
Brücke
Von Geist zu Geist
*
Schwert
Das vertreibt
Aus dem Paradies
Die Unschuldigen
*
Vernichter
Von Schönheit und Liebe
*
Verhüller
Des göttlichen Schicksals
*
Anfang und Ende
Des wehenden Geistes
Sturmentfacher und Prallhang
*
Je Dichter sich Geist
In Worten drängt
Desto heiliger, 
ja, göttlicher sind sie!
*
Der Vollkommene schweigt
*
O heilig Wort
Schöpfer des Menschen
Wurzel und Frucht
Des Geistes
*
Wer dich faßt
Der faßt die Welt
Und nur ein Gott
Vermag dies


DER VERSUCHER

Freund!
Wenn ich verlaß
Im Geist
Die Irdischen
Irre stammelnd
So um
Die Vollkommenheit
Aufzusuchen

Zurücklassen
Muß ich alles
Die Menschen
Die Gewohnheiten
Die Sprache

Es ist ein Weg
Den ich allein gehen muß
Trachte nicht
Mich zu verstehen
Trachte nach
Deinem eigenen Leben

Aber bleib mir
In Liebe verbunden
Ich bin der Versucher
der Menschen Wegbereiter
Im Jenseitigen
Ihre Einsichten formend
Denkend handelnd

Das Bleibende
Stiften die Dichter

Das Geheimnis
Das mir das Leben gibt
Oder den Tod


SPEKULATION

Verlassen hab ich
Den Boden des Erlebten und
Hingegeben mich
Ahnungen.
Dann hab ich,
Ganz geworden,
Hinter mir
Die Irdischen,
Vermag mich nicht mehr
Mitzuteilen

Macht meine Phantasie
Mein Schicksal mir
Oder gibt mein Schicksal mir
Ahnung?

Bin ich Herr meiner Träume
Oder bestimmen sie
Mich?


DAS AUGE DES ZYKLONS

Wie millionen Sterne
Um den Kern des Nebels wandern,
So kreisen meine Gedanken
Um den blinden Fleck
– Die mir vorenthaltene Erkenntnis

Alles kreist um das Unwißbare,
Das zum Vollkommnen Fehlende,
Den Anfang all meines Denkens

Nie komm ich an den Kern
Des Denkens und Wissens;
So muß alles
Irrtum bleiben

Gott sieht mich
Durch das Auge des
Zyklons


DAS EIGENE LEBEN

Wenn du merkst,
Daß die Meinungen
Deiner Eltern
Immer wieder
Den deinen entgegenstehen,
Als hinge ihr Urteil
Ab von deinem,
Dann wird es Zeit
Aus dem Hause zu gehn
Und ein eigenes Leben zu suchen,
Sonst wirst du
Herabgezogen in die
Erstarrung des Todes


NEBEL

Wenn du durch den Nebel gehst,
Stört er mehr, als wenn du stehst,
Stehst du, siehst du klar im Kreis;
Vom Leben aber du nichts weißt.

Meidest du den Zweifel nicht,
Gibt der Nebel frei die Sicht.
Steigen kannst auf hohe Berge;
Unter dir sind nur noch Zwerge.

Schicksalswege sind voll Tücke,
Sie nur führen dich zum Glücke!
Dies, mein Freund, will ich Dir sagen,
Solltest du des Schicksals klagen.