Hans-Joachim Heyer

91-94b

WachTraum

Die Sonne unterm Horizont versunken ruht,
Beleuchtet meiner Träume Welten sanft und gut.
Indes das Mondschiff segelt still im Dunkelmeer
Und sucht den Hafen, wo es kam des Abends her.

Des Nachts am Himmel tausend Sterne leuchtend stehn;
Nur ein Stern ist des Tags am Firmament zu sehn.
So wach ich nachts in tausendfachen Welten auf;
Am Tag hat eine Welt nur ihren steten Lauf!

(Nr. 91: 7.3.1987)


Eine Dichtertragödie

Er war ein Talent,
Besaß alles:
Einsamkeit, Kraft und Geduld,
Konnte in alles
Liebend hinein
Und stolz wieder heraus,
Sich selbst erbauend,
Künstler und Kunstwerk zugleich.

Eines nur fehlte,
Das wußte er:
Handwerk und Übung.

Da kamen die Verführer.
Sie sagten:
Lernen mußt du
Von den Meistern des Fachs,
Und sie schwärmten von großen
Dichtern und Denkern.

So kam das Talent,
Gelehrig,
Von Neugier und Schönheit gelockt
Den Meistern sehr nahe.
Er lernte sie kennen,
Labte sich an ihrem Lichte.

Nun kümmert er matt und
Krank am Leibe
In ihren Schatten dahin.
Alles raubten sie ihm,
Die toten und lebenden Meister
Die bauten daraus weitere Zinnen
An ihren Schlössern des Ruhmes .

So wird er nicht mehr erfahren,
Daß Meister Vampire sind,
Denn er versteht nicht mehr
Die Sprache seines Leibes
Und beherrscht nicht mehr
Seine Gedanken und Sinne.

Rausch und Betäubung
Blieben ihm übrig:
Das Schwärmen von großen
Dichtern und Denkern
Und der Tod,
Der schreckliche, niemals erlösende.

(Nr. 92, 8.3.1987, v7: 15.3.90)


Terroristen

Terroristen!
Revolution wollt ihr?
Zerstören
diesen Staat?

Ich sag euch:
Euer erhobenes Bewußtsein
läßt euch den Staat
so schlecht scheinen.

Hebt es noch höher
und begreift:
Was ihr als Dummheit erachtet,
ist die Klugheit der Politiker
in einem Staat auch für Dumme!

Jeder findet, was er sucht
in diesem Staat:
Der Massenmensch seine Gerechtigkeit,
der Sklave seinen Herrn,
der Kapitalist sein Kapital,
der Terrorist seine Gewalt,
und der Freie seine Freiheit.

Nun klage 
der Massenmensch nicht
über Langeweile;
hat er sich freiwilig doch
mit Rausch und Betäubung
die Nerven zerstört!

Nun klage
der Sklave nicht
über Gesetz und Ausbeutung;
hat er sich freiwillig doch
in die Sicherheit
der Gefängnismauern begeben!

Nun klage
der Kapitalist nicht
über den Verlust
unkäuflicher Werte;
hat er sich freiwillig doch
stumpf für Gefühle gemacht!

Nun klage
der Terrorist nicht
über Gewalt und Ungerechtigkeit.
Sucht er Friede und Gesetz,
so versklave er sich
und diene treu einem Herrn!

Nun klage 
der Freie nicht über die Gefahr
und Ziellosigkeit seines Lebens,
Sucht er Sicherheit und Aufgaben,
so versklave er sich
und diene treu einem Ideal!

Der Staat ist für alle da;
nicht nur für euch!

(Nr.93, 12.3.1987, v13:24.3.90)


Rat an jungen Schriftsteller

Du willst mit Schreiben
Geld verdienen?
Dann überwinde dich,
springe über deinen Schatten
und vor allem:
Lerne die Lüge!

Denn du wirst nur honoriert
mit Geld und Ehre,
wenn du den Leuten vorenthältst,
was sie brauchen
und ihnen nimmst,
was sie haben!

Gib’s auf,
sie aus dem Sumpf
ziehen zu wollen;
sie sind noch zu sehr Frosch
und wollen’s durchaus bleiben!

Auch wollen sie keine Freunde,
die sie weiterbringen.
Tote Bilder wollen sie,
Ersatz,
worin sie sich
und ihr Elend wiederfinden,
aber mit dem Abstand des Zuschauers.

Und immer die gleichen Bilder,
jeden Tag bekannte Sensationen;
Sie fürchten das Neue.
Gewohnheit ist harmloser,
als Wahrheit!

Nur Liebende
werden des Sterbenden überdrüssig.

Schlechtes Gewissen?
Warum das?
Versuche,
den Leuten wirklich zu helfen,
und du wirst sehen,
sie werden dich hassen dafür:

Klares Wasser
gehört nicht in den Sumpf!
Und der Reine braucht dich nicht.

Nr.94, 18.3.1987, v8:6.12.90

Anmerkung vom 18.4.2002: Ich war damals der „Autorengruppe Nahe“ beigetreten und hatte mit einem alten Dichter und Komponisten (Andreas Bauer), der nach eigenen Worten früher häufigen Umgang mit Bertold Brecht hatte, ein Gespräch, in welchem er mir das in diesem Gedicht Vorgetragene erzählte. Ich wollte ihm damals nicht glauben, doch heute muß ich ihm leider im Großen und Ganzen Recht geben. Allerdings gibt es Ausnahmen unter den Menschen – auf die kommt es an, und die sind heute leichter zu finden, als damals – dank Internet.


Ich bin ein Baum

Ich bin ein Baum.
Vor 30 Jahren war ich, blattlos, Stengel,
noch zwischen Erde und Himmel
und lebte in mir allein und wuchs
heran in meiner Welt so selig.

Im siebten Jahr vielleicht
entsproß dem Stiel ein Ästchen;
das linke wuchs des Tags beim Lernen,
das rechte nachts und auch
beim selbstvergeßnen Spiel.

Ein schönes, kleines Bäumchen,
war aus mir geworden,
doch schon verbrauchten sich
die Kräfte meiner Keimlingsblätter;
ich mußte raus in diese Welt
und ach, ich war allein nicht mehr!

In einen großen, dichten Wald
war ich gefalln als Same;
nun standen viele andre Bäume
um mich herum mit ihren Blätterästen,
ergrauten mich und meine Seele.

Verzweifelt suchten meine zarten
Blättchen nach dem Lichte,
und einen dünnen Strahl
nur konnte ich erhaschen;
ihn verdankte ich den Eltern,
die ihn hatten freigehalten mir.

Zum Glück war dünn und biegsam noch der linke.
Ihn bog ich dem Strahl engegen,
wand um ihn herum den Ast,
wie um die Stang die Bohne.

Mein rechter Zweig verdarb dabei.
Bald wußte ich nicht mehr,
daß ich ihn überhaupt besaß,
denn ohne Blatt verlor er sich im Dunkel.

Mein linker Ast hingegen hatte bald
die Krone meiner Eltern durchgebrochen,
aber außer ein paar schwachen Strahlen blieb
die Sonne ihm verborgen.

Fünf Strahlen fingen seine Blätter ein,
so ließ er gleich viel neue Äste ranken hoch
zu nutzen ihre Kräfte.
Eine Krone war die Folge,
ganz bizarr; sie hieß mein Ich.
Sie war mein Wert, hat Licht gesammelt
und machte Schatten viel.

Andre Bäume strebten auch
hoch und rangen um das Licht.
Kämpfe tobten: lange, geile Triebe suchten
irre nach Erleuchtung;
die Äste dünn und schwach; kaum trugen sie
noch ihre eigne Last.

Obgleich sie sich bekämpften,
mußten sie sich stützen.
Unten stand im Dunkel nur
totes Holz, wer wußte noch davon?

Meine Äste, ganz zerbrechlich,
waren viel zu dünn geraten,
daß ein Weitermachen wie bisher
wie Selbstmord mir erschien.
Was könnt ich tun und ändern?

Ich schaute tief in mich hinein
und fand im Dunkel unten,
wenig über Wurzeln,
ein blattlos Zweiglein ganz allein;
zu meinem Staunen lebend.

Wie war das möglich, fern des Lichts?
Ich sah hin und siehe:
es leuchtet selbst ein wenig!
Das hatt ich übersehen,
im Lichte meiner Eltern und Lehrer.

Fasziniert vom eigenen Licht
rang ich nicht mehr um das fremde,
und nutze freigewordne Kräfte,
zur Sorge um den verkümmerten Sproß.

Es war mir fast egal,
daß alle Konkurrenten mich
zu überwuchern schienen;
hatt ich doch meinen eignes Licht,
den Funken Hoffnung mir entdeckt!

Als ich das Steben aller
fünfe Äste stoppte,
begann der helle Zweig zu wachsen.
Ach, war ich so glücklich und
in meinem Glück enthüllte sich
mein Geheimnis mir.

Meine Gegner höhnten:
„Er hat verloren, der Schwächling!“
Doch es kümmerte mich nicht viel,
ich freute mich am Wuchse
des geheimen Zweiges.

Ich wuchs heran
in klarer Harmonie
mit starkem Stamm und unbeugsamen Zweigen.
Ein Windhauch stürzte um die Stangen,
allein steh ich auf dem Schlachtfeld nun und sehe
dort ein zartes Pflänzchen,
verkümmert im Dunkel unterm Gebälk!

Ihm will ich leuchten,
es verführen zum eigenen Licht.
Ich sag ihm:
Es gibt nicht nur die Sonne;
du bist selber ein Stern!
Machs nicht wie die Schattenbäume,
die du siehst um dich herum.

Aber das Pflänzlein erkannte nicht mein Licht;
es kämpfte zusehr gegen die Schatten der Andern.
Es schrie: Ich sehe dich nicht, 
ich seh nur die Sonne dort oben,
und da muß ich hin!

(Nr.94b,31.3.1987, v12:18.4.2002)