Hans-Joachim Heyer

Traum und Realität

Datum: 18.12.2000: Um den Unterschied zwischen Traum und Realität herauszufinden, gibt es zweierlei Wege: Man kann herauszufinden versuchen, was am Traum real ist, und man kann erforschen, was an der Realität „aus dem Stoff ist, aus dem Träume sind“. Ich habe vor, in diesem Referat beide Wege nacheinander zu beschreiten, zu vergleichen und meine Schlüsse aus dem Vergleich zu ziehen.

  1. Wie viel Traum ist in/an der Realität?
    2. Wie viel Realität ist im/am Traum?
    3. Wie real ist die Realität?

Zu 1.: Mein Modell der Realität, verpackt in eine Geschichte: Als ich im März dieses Jahres meine erste Brille bekam (Fielmann, 53 DM) und auf die Nase setzte, war ich erstaunt, daß ich, obwohl ich den Strahlengang des Lichtes vom Physikunterricht her kannte, die Welt vor der Brille besser sah, statt hinter der Brille im Kopf! Eiderdaus, die Physik muß hier ja schon falsch sein, dachte ich! Daß es Sehstrahlen gebe, die vom Auge ausgingen, bestreitet die Physik ja vehement! Also muß die Physik irren: Alles muß ganz anders sein. Wollen wir mal überlegen, wie es denn wirklich sein müßte:

Wir wollen die Physik mal nicht soooo schnell zu den Akten legen, wie es eben den Anschein hatte. Wollen wir uns ruhig noch mal zu Gemüte führen, wie Physik und Neurobiologie die Sache mit dem Sehen erklären: Da kommen also Fotonen von der Sonne, werden zB von diesem Tisch teilweise reflektiert, kommen auf die Netzhaut des Auges, werden dort in elektrochemische Reize umgewandelt und gelangen über den Sehnerv in die Sehrinde. Dort wird nun das Bild des Tisches durch neuronale Aktivitäten rekonstruiert, bzw. repräsentiert; d.h. der reale Tisch wird in der Sehrinde abgebildet. Und diese Repräsentation sehe ich dann, nicht den realen Tisch. Beweis: Wenn ich die Brille aufsetze, wird die Repräsentation besser – die Sache mit dem Strahlengang scheint zu stimmen.

Aber: Ich sehe den Tisch nicht in meiner Sehrinde, sondern „da draußen“! Dieses Problem machte mir lange Kopfzerbrechen, ehe ich die Lösung fand. Und bei einem Autor und Neurobiologen fand ich die beste Bestätigung und eine genauere Ausarbeitung dieses Gedankens: in Gerhard Roths in Fußnote 1 genannten Aufsätzen [1]

Nur eine Theorie, die der von ihm Geschilderten sehr ähnlich ist, kann erklären, warum die Physik funktioniert und warum ich die Dinge VOR der Brille deutlicher sehen kann, obwohl es keine physikalischen Sehstrahlen gibt.

Konstruktivismus als Folge eines Perspektivwechsels

Gerhard Roth beginnt seine Untersuchungen mit der Schilderung des Welterlebens aus Sicht des ‚kritischen Realismus’’:

„Die alltägliche sinnliche Erfahrung erweckt in uns den Eindruck, daß unser Wahrnehmungssystem in direktem Kontakt mit der Welt steht: die visuelle Welt ist uns im wahrsten Sinn des Wortes unmittelbar augenscheinlich gegeben, die Laute dringen unvermittelt an unser Ohr, und wir betasten und begreifen die Gegenstände in unserer Reichweite unmittelbar als Gegenstände. Wir empfinden zwischen der sinnlich erfahrbaren Welt und uns nichts Vermittelndes, wir müssen nichts von ihr indirekt erschließen und erahnen. Die unmittelbare Gegebenheit der sinnlichen Welt ist sprichwörtlich, und sie wird von den meisten Philosophen und Wahrnehmungstheoretikern in charakteristischem ontologischen Gegensatz zur Welt der Meinungen, Hypothesen und Theorien über sinnlich Erfahrenes gesehen. (im Original Seite 229)

… All dies unterstützt stark den erkenntnistheoretischen Standpunkt des kritischen Realismus: unsere Sinnesorgane bilden die Welt ab, so gut sie eben können, d.h. im Rahmen des physikalisch und physiologisch Möglichen und evolutiv Bewährten. Sie sind die Tore des Gehirns zur Welt; durch sie strömt die jeweils spezifisch benötigte Information ins Gehirn ein und wird von diesem zur adäquaten Wahrnehmung, z.T. unter Zuhilfenahme angeborener und erworbener Gestaltungsmuster, zusammengefügt. …“ (231)

„Eine ganz andere Perspektive als die soeben aufgezeigte tut sich auf, wenn man das Wahrnehmungsproblem nicht vom Standpunkt der Sinnesorgane, sondern vom Standpunkt des Gehirns sieht. Die Sinnesorgane … werden zwar … von Umweltreizen aktiviert; … die neuronale Erregung jedoch, die aufgrund der sensorischen Reizung in den Sinnesorganen entsteht und zum Gehirn weitergeleitet wird, ist als solche unspezifisch. Man kann einer Nervenimpulssalve … nicht ansehen, ob sie z.B. durch visuelle, akustische, geruchliche Erregung hervorgebracht wurde … Die spezifische Modalität der Sinnesorgane, auf der unsere Sinneswelt zu beruhen scheint, ist ‚hinter‘ den Sinnesorganen offenbar verschwunden. Die Sinnesorgane übersetzen die ungeheure Vielfalt der Welt in die ‚Einheitssprache‘ der bioelektrischen Ereignisse (Nervenpotentiale), denn nur diese Sprache kann das Gehirn verstehen. … Man kann leicht einsehen, daß diese Übersetzung in die neuronale ‚Einheitssprache‘ etwas für die Funktion von Nervensystemen Unabdingbares ist, denn wie könnten sonst im Dienste der sensorischen Verhaltenssteuerung Auge und Muskeln, aber auch Auge und Ohr, Gedächtnis und Geruch miteinander kommunizieren…“ (232)

Bei diesem Übersetzungsprozeß aber geht das ‚Original‘ verloren. Die ‚Sprache‘ des Nervensystems selbst ist bedeutungsneutral (oder wie H. von Foerster drastisch zu sagen pflegt: “klick‘, ‚klick‘ ist das Vokabular der Nervensprache‘). Weil aber im Gehirn der signalverarbeitende und der bedeutungserzeugende Teil eins sind, können die Signale nur das bedeuten, was entsprechende Gehirnteile ihnen an Bedeutung zuweisen: ‚Wahrnehmung ist Interpretation, ist Bedeutungszuweisung‘ (14).

„Bei der Bedeutungszuweisung operiert das Gehirn auf der Grundlage früherer interner Erfahrung und stammesgeschichtlicher Festlegungen: erst dann wird ein Wahrnehmungsinhalt bewußt. Das heißt aber, bewußt wird nur das, was bereits gestaltet und geprägt ist. Aufgrund dieser Arbeitsweise ist das Gehirn gar nicht in der Lage, Wirklichkeit als solche abzubilden oder zu repräsentieren: Es gibt kein Urbild. Das Gehirn ‚… kann nur (für sich und in sich selbst) präsentieren, es kann nur konstruieren‘. – Da das Gehirn keinen direkten Zugang zur Welt hat, ist es als Teil des Nervensystems kognitiv und semantisch abgeschlossen. Es ist … selbstreferentiell und selbstexplikativ.

… Alle Bewertungs- und Deutungskriterien muß das Gehirn aus sich selbst entwickeln. Dabei erweist sich in evolutionstheoretischer Sicht die Unspezifität der Nervenimpulse als Vorteil; denn ‚… ihre freie Deutbarkeit und Übersetzbarkeit macht überhaupt erst eine Kommunikation der Sinnesempfindungen und eine Überführung von Wahrnehmung in Aktion möglich‘. Ein umweltoffenes Gehirn dagegen wäre als Reflexsystem fremdgesteuert, heterogen und nie in der Lage, komplexe Umwelten zu bewältigen. Bei dieser Bewältigung, die einen hohen neuronalen Aufwand voraussetzt, spielen frühere sensomotorische Erfahrungen und damit verknüpfte Bewertungsprozesse eine entscheidende Rolle. Darum ist, wie Roth pointiert feststellt, unser Gedächtnis ‚unser wichtigstes Sinnesorgan‘.“ (15/16)

„Erkenntnistheoretisch bedeutsam ist die von Roth u.a. getroffene Unterscheidung zwischen realem Gehirn und kognitiver Welt: ‚Der reale Organismus besitzt ein Gehirn, das eine kognitive Welt erzeugt, eine Wirklichkeit, die aus Welt, Körper und Subjekt besteht, und zwar in der Weise, daß dieses Subjekt sich diese Welt und diesen Körper zuordnet. Dieses kognitive Subjekt ist natürlich nicht der Schöpfer der kognitiven Welt, dieser Schöpfer ist das reale Gehirn, es ist vielmehr eine Art ‚Objekt‘ der Wahrnehmung, es erfährt und erleidet Wahrnehmung. Das reale Gehirn ist in der kognitiven Welt ebenso wenig gegeben, wie die Realität selbst und der reale Organismus‘.

Schon Gestaltpsychologen … haben darauf hingewiesen, daß die kognitive Welt in sich abgeschlossen ist … Nur innerhalb der kognitiven Welt gibt es Innen und Außen, Raum und Zeit. Die kognitive Welt ist die räumliche und zeitliche Wirklichkeit des kognitiven Subjekts. Kognitive Raum-Zeit-Begriffe sind nicht auf die reale Welt anwendbar, die eine notwendige kognitive Idee, aber keine erfahrbare Wirklichkeit ist. Das reale Gehirn muß seine Existenz und seine Eigenschaften aufgrund innerer Erregungszustände erschließen: ‚Wir können Wahrnehmungen nicht selbst wahrnehmen, wir sind Wahrnehmungen. Wahrnehmung ist die Selbstbeschreibung des Gehirns‘.“ (15, 16)

„All dies führt zu der merkwürdigen Feststellung, daß das Gehirn, anstatt weltoffen zu sein, ein kognitiv in sich abgeschlossenes System ist, das nach eigenentwickelten Kriterien neuronale Signale deutet und bewertet, von deren wahrer Herkunft und Bedeutung es nichts absolut Verläßliches weiß. Die für den gesunden Menschenverstand ungerechtfertigte Skepsis gegenüber der Leistungsfähigkeit der Sinnesorgane erscheint damit auf die Spitze getrieben, denn die von uns erlebte sinnliche Welt ist demnach nur ein Konstrukt des Gehirns, wenn auch keineswegs ein willkürliches Konstrukt.“ (235)

„Das Gehirn erschafft also eine kognitive Umwelt und einen kognitiven Körper sozusagen per exclusionem (Ausschluß): alles, was nicht Körper ist, ist Umwelt, und umgekehrt; oder: alles, was nicht ‚drinnen‘ ist, ist ‚draußen‘. Diese Grenze zwischen kognitivem Körper und kognitiver Umwelt innerhalb der kognitiven Gesamtwelt ist eine unmittelbare, denn die Vermittlung zwischen Welt und Gehirn durch die Sinnesorgane, die in der materiellen, ‚realen‘ Welt des Organismus existiert, existiert natürlich innerhalb der kognitiven Welt, der ‚Wirklichkeit‘ unseres Gehirns, nicht. Beide Bereiche werden vom Gehirn sozusagen direkt nebeneinandergestellt. Deshalb erleben wir die Dinge und Prozesse unserer Umwelt in der Tat als unmittelbar, denn die Bereiche der Dingwelt und der Körperwelt haben als vom Gehirn konstituierte denselben ontologischen (nämlich kognitiven) Status. So scheint es, als blickten wir durch unsere Augen direkt auf die Welt, insbesondere da wir ja unsere Augenhöhlen schattenhaft mitsehen. Wir haben nicht das Erlebnis, daß es zwischen uns und der Welt irgendeine vermittelnde Instanz gibt.

Es ist deshalb auch sehr irreführend, wenn von vielen Wahrnehmungstheoretikern gesagt wird, die von uns sinnlich erfahrene Welt sei in Wirklichkeit in unserem Kopf bzw. Gehirn. Diese Feststellung führt dann auch zu Spekulationen darüber, wie denn unsere Wahrnehmungen, die doch ‚da drinnen‘ entstehen, ’nach außen‘ kommen. Diese häufig gestellte Frage verkennt, daß das ‚draußen‘, das wir wahrnehmen, ein kognitives ‚draußen‘ ist, welches nicht mit dem ‚draußen‘ der normalen Welt, in der unser Organismus lebt, verwechselt werden darf. Das Gehirn erzeugt bei der Konstruktion der kognitiven Welt, wie oben dargestellt, zugleich ein ‚drinnen‘ und ‚draußen‘, die aufeinander bezogen sind. Abstrakt gesprochen werden von vielen Theoretikern zwei ontologisch völlig unterschiedliche Welten, die (im physikalisch weitesten Sinne) materielle, reale Welt des Organismus und die kognitive, ‚wirkliche‘ Welt, miteinander in Beziehung gesetzt, die (wahrscheinlich) kausal, aber nicht räumlich verknüpft sind. Das Gehirn, das mir zugänglich ist, … existiert ja innerhalb meines kognitiven Raumes und ist natürlich nicht mit dem realen Gehirn identisch, das den kognitiven Raum erst konstituiert. Was ich, auf dem Operationstisch liegend, auf dem Monitor oder in einem Spiegel dargestellt sehe, halte ich natürlich in diesem Augenblick für das offengelegte Gehirn, das ‚das alles‘, was ich erlebe, erzeugt. Wäre dies aber so, dann hätte ich eine paradoxe Situation vor mir: ich könnte zugleich in mir und außer mir sein. Oder anders ausgedrückt: mein Gehirn könnte sich selbst von außen ansehen dadurch, daß es sich eine Welt erzeugt, in der es selbst identisch enthalten ist. Dies aber führte sofort zur unendlichen Spiegelung des Gehirns in sich selbst. Die Auflösung dieser Paradoxien besteht aber darin, daß das Gehirn, welches wahrgenommen wird, ein kognitives Konstrukt des wahrnehmenden , d. h. konstruierenden Gehirns, ist und als solches selbst nicht mehr wahrnehmen kann.

Die genauere Bestimmung der ‚räumlichen‘ Beziehung zwischen realer und kognitiver, ‚wirklicher‘ Welt ist deshalb so schwierig, weil der Begriff des Raumes natürlich selbst ein kognitiver ist. … Die Gültigkeit der allgemeinen Relativitätstheorie wird nicht in der realen Welt, sondern in der – uns allein zugänglichen – sinnlich – kognitiven Welt nachgewiesen, z.B. durch astronomische Beobachtungen, und das Eintreffen bestimmter Annahmen beweist nur die Konsistenz der theoretischen Annahmen mit unseren Beobachtungen.

Wir können deshalb weder den alltäglichen noch den physikalischen Raumbegriff auf die Beziehungen zwischen kognitiver und realer Welt anwenden, da beide Welten einen grundsätzlich verschiedenen ontologischen Status haben. Es hat deshalb keinen Sinn zu sagen, daß die kognitive Welt in der realen Welt existiert, denn das würde ja eine beide Welten umfassende Geometrie, eine Geometrie des ‚Hyperraumes‘ voraussetzen.“ (238/239)

Als Beweis für die Richtigkeit des Gesagten möchte ich die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit verstanden wissen: Sie ist konstant im jeweiligen kognitiven Raum, konstant in Bezug zu mir (in meinem Raum). Dieser Sachverhalt wird bis heute systematisch von der Physik – erst recht seit Einstein – falsch interpretiert, denn Einstein rechnete die reale Relativität zwischen den kognitiven Räumen in einen objektiven Raum um, wobei er aberwitzige Verzerrungen – ich nenne sie FEHLER – eingestehen mußte. Er ließ unberücksichtigt, daß kein einziger Lichtstrahl in meinem kognitiven Raum in einen anderen Raum überwechselt. Jedes bewußte Wesen hat sein eigenes Licht. Da die meisten modernen Physiker ihren Geist entsprechend der Relativitätstheorie strukturiert haben, sind sie außerstande, konstruktivistische Gedankengänge nachzuvollziehen. Für sie ist Einstein ein unantastbarer Heiliger. [2]

zu 2.: Vor einigen Jahren wachte ich eines Sonntagmorgens auf; es mußte schon recht später Vormittag sein, denn draußen stand die Sonne hoch am Himmel. Der Radiowecker spielte unglaublich schöne Musik. Ich lauschte eine Weile diesen mitreißenden Klängen, doch dann fiel mir ein, daß ich mich beeilen müße, denn sonst könnte ich bis zum Mittagessen überhaupt nichts Gescheites mehr unternehmen. Ich kleidete mich also an, spazierte durchs Zimmer, öffnete das Fenster und sah hinaus: Es war ein wirklich schöner Sonntagmorgen! Der Radiowecker spielte immer noch diese unglaublich tolle Musik. Plötzlich kam mir ein Verdacht: Die akustische Qualität der Musik war für diesen billigen Wecker viel zu gut! Irgendetwas stimmte nicht. Ich schaute auf den Tisch, auf dem allerlei Krimskrams herumlag. Ich nahm einen Bleistiftspitzer in die Hand und besah ihn mir: Irgendwie sah ich alles viel zu klar, viel zu plastisch: alle Gegenstände drückten etwas von Wesentlichkeit aus, so als hätten sie ein eigenes Leben, eine eigene Bedeutung aus sich selbst heraus – als wollte zB der Bleistiftspitzer mir sagen: „He du, ich bin ein Bleistiftspitzer, und ich bin völlig damit zufrieden. Niemals wollte ich etwas anderes sein, als das, was ich jetzt bin!“. Der Verdacht verstärkte sich fast zur Gewißheit: Ich träumte! Ich schaute mich um: „Das ist doch mein Zimmer! Genauso sieht es auch in Wirklichkeit aus! Unglaublich! Ich muß herausfinden, ob ich wirklich träume oder ob ich wach bin. Wenn ich träume, müßten meine Augen ja geschlossen sein. Also versuche ich jetzt, meine Augen zu öffnen.“ Das war nicht so einfach, denn wie öffnet man Augen, von denen man fühlt, daß sie schon offen sind? Fast krampfhaft versuchte ich meine bereits offenen Augen noch weiter zu öffnen, in der Hoffnung, daß sich mit dieser Bemühung meine vermutlich geschlossenen Augen öffnen würden. Nach einigen Versuchen gelang das Experiment! Mit einem Schlag wurde es stockdunkel, völlig still und ich stand nicht mehr im Zimmer, sondern lag im Bett. Ich knipste das Licht an: Der Radiowecker zeigte zwei Uhr Morgens an.“ (eigener Klartraum)

Im Verlaufe mehrerer Klarträume fand ich heraus, daß Gegenstände im Klartraum nur dann fest, also materiell, sind, wenn ich nicht auf die Idee komme, sie mit meinen Händen oder dem ganzen Körper zu durchdringen. Auch mein Körpergewicht gibt es nur, solange ich unbewußt daran glaube. Wünsche ich nämlich zu fliegen, reicht der Befehl: „Hoch!“ aus, um mich in die Lüfte zu erheben. In einem Klartraum sind mir keine Grenzen gesetzt, außer der, daß ich nichts tun darf, was mich aufweckt und nichts tun kann, was mir nicht einfällt. Hindernisse gibt es hier also nur, wenn ich vergessen habe, daß ich sie überwinden kann. Solange ich während eines Klartraumes mir vorstelle, mich in der Realität zu bewegen, gibt es keinen Unterschied zu ihr. Erst wenn ich mir meiner Schöpferkraft bewußt werde und ich keinen Wert mehr auf diese Nachahmung lege, beginnt die geträumte Welt, sich meinen Wünschen und Nachlässigkeiten anzupassen: woran ich nicht denke, das verschwindet; was ich mir herbeiwünsche, ist sofort da, aber auch das, wovor ich mich fürchte, erscheint, sobald ich daran denke. Nach vielen Klarträumen ist mir klargeworden, daß es das Gehirn anstrengt, eine stimmige Welt herbeizuzaubern, denn es ist ungemein schwer, die Situation aufrecht zu erhalten, daß sich die Gedanken nicht sofort realisieren; es ist schwer, eine stabile Umwelt zu behalten, während man an so viele andere Sachen denkt. Deshalb gleiten die meisten Klarträume in normale Träume ab oder ich wache auf.

Wie real ist nun ein solcher Traum? Falls die Materialisten Recht haben, werden alle geistigen Aktivitäten von materiellen Veränderungen verursacht. Dann hätten auch Träume eine materielle Grundlage, wären also Repräsentationen materieller Zustände. – Zu diesem konsequenten Schluß hat sich meines Wissens allerdings noch kein Materielist durchringen können. Und ich auch nicht. Aber ich bin auch kein Materialist.

Gerhard Roth nennt die Repräsentation der Realität „Wirklichkeit“. Ich möchte mich also präzisieren: Da sich mit Hilfe Roths Überlegungen die vermeintliche Realität als kognitive Wirklichkeit entpuppt hat, möchte ich nun diese Wirklichkeit mit den Traumwirklichkeiten vergleichen.

Nach Roth erhält mein reales Gehirn im Wachzustand über die realen Sinnesorgane (nicht die Repräsentationen von ihnen!) „Störungen“ oder „Veränderungen“, die im geschlossenen kognitiven System interpretiert werden, und die das aktuelle mentale Bild der plausiblen Außenwelt aktualisieren. Da das kognitive System kognitiv geschlossen ist, können die Sinnesreize nicht direkt das kognitive System beeinflussen, sondern nur indirekt über eine „strukturelle Kopplung“ (261), wo das reale Gehirn die physikalischen Reize interpretiert und ins kognitive System einspeist. Man muß sich das kognitive System als ein Haus ohne Fenster und Türen vorstellen, in welchem der Hausherr ausschließlich aus dem Wackeln der Wände Schlüsse über eine mögliche Außenwelt zieht. (Maturana drückt das so aus, indem er schreibt, das autopoietische System (wozu er auch unser Denksystem zählt), sei materiell und energetisch offen, aber operational geschlossen, und nennt das Ganze „Strukturdeterminismus“. (259)) Im Traum hingegen sind die Reize der realen Außenwelt weitgehend ausgeschaltet, und das reale Gehirn kann ungestört eigene Phantasien in denselben kognitiven Raum hineinprojizieren, in welchen es im Wachzustand die reale Welt verwirklicht. Meine Antwort ist also folgende: Wir haben es sowohl beim Anblick der Wirklichkeit, als auch beim Traumerleben gleicherweise mit mentalen Welten zu tun. Der Stoff, aus dem die Träume sind, ist derselbe, aus dem die Alltagswelt gemacht ist. Beide Welten sind Innenwelten unserer realen Gehirne.

Zu 3: Wichtig scheint mir noch die Klärung der Frage, wer denn genau träumt. Bin „ich“ es, der träumt? – Keineswegs! Denn „ich“ werde geräumt, und zwar im Wachen wie im Schlafen. Ich habe alle Universen meiner Klarträume durchsucht. All diese Welten zusammen, das bin ich. Mein Ich wird manchmal konstituiert, manchmal nicht. „Ich“ kann Erlebnisse haben, ohne ein Ich zu sein, denn „ich träume“ ist Resultat von Zuschreibungen: Es träumt eine Welt und einen Leib. Diesem Leib wird ein Erlebniszentrum zugeschrieben, welches die Erlebnisse auf sich bezieht und perspektivisch umrechnet. Ich habe im Traum und bei der Meditation schon oft Erlebnisse gehabt, ohne zu sein.

Da ich auf den Reisen in meine vielen Traumuniversen noch nie einer autonomen fremden Seele begegnet bin, schließe ich, daß ich in der Realität eine autonome Seele bin und NICHT Teil etwa einer Kollektivseele oder gar ein Traum Gottes. Hiermit sind wir wieder bei der Frage nach der realen Welt angelangt.

Wenn unsere subjektiven, kognitiven Welten Repräsentationen sein sollen, steht die Frage im Raum: Repräsentationen wovon? Von der realen Welt natürlich. Was ist die reale Welt? Wir wissen inzwischen, daß es in ihr weder Farben, noch Klänge, noch Geschmäcker, noch Gerüche gibt, sondern angeblich nur elektromagnetische Wellen, mechanische Kollisionen von Molekülen – und Moleküle und Atome eben… die Welt der Physik! Aber auch diese Welt hinter unserer kognitiven ist bloß eine kognitive! Sie ist keineswegs die „Welt an sich“! Die physikalische Welt ist nichts als die kognitive Welt der Hirnrinde, wohingegen die Erlebniswelt die Welt tieferer Hirnareale ist. Wer uns wissenschaftliches Denken beibringt, lehrt uns, unsere Welt nicht mehr in tieferen Schichten unseres Geistes zu konstituieren, sondern in Oberflächenbereichen – wo Gefühle (Erleben) kaum hingelangen können. An der Oberfläche unseres Geistes können wir tote, abstrakte Maschinenwelten erschaffen, faszinierend…

Trotzdem ist Physik nicht unwichtig. Mit ihrer Hilfe ist mir die Vorstellung gelungen, daß es mentale Welten jenseits meiner mentalen Welt gibt, die mehr Dimensionen enthält! (Die Seele ist multidimensional und ist theoretisch in der Lage, noch höherdimensionale Erscheinungswelten zu kreieren.) Die physikalische Welt ist um mindestens eine Dimension reicher, als die gegenwärtige mentale Welt: Der dreidimensionale unendliche Weltraum ist in einer weiteren Dimension zur Kugel gekrümmt. Wäre dem nicht so, könnte es nachts draußen nicht dunkel sein.

Ich stellte mir die Frage, wie ich diese „höheren Welt“ betreten kann – also zu meiner mentalen Welt machen kann, denn in diesem Ziel liegt die Zukunft der Menschheit. Wie erreiche ich, daß meine Seele eine zusätzliche Dimension konstruiert? Nun, die Antwort lautet lapidar: Indem ich mich mit dieser Frage intensiv beschäftige. Was ich hierzu in meinen Bemühungen der letzten Jahre erreicht habe, ist jedoch nicht Thema dieses Referats.

Was sagt Steven LaBerge? [3]

Steven LaBerge bestätigt im Wesentlichen Roths Ausführungen, sodaß ich mich hier auf einige wichtige Zitate beschränken möchte.

  1. 247: Dieser Traumkörper ist unsere mentale Repräsentation unseres wirklichen, materiellen Körpers. Aber er ist der einzige Körper, den wir je unmittelbar erleben. Unmittelbare Kenntnis haben wir nur von unseren Bewußtseinsinhalten. Unser gesamtes Wissen über die materielle Welt, einschließlich selbst der angenommenen Existenz unseres „ersten“ oder materiellen Körpers, verdanken wir Schlußfolgerungen.

249: Nach der hier vertretenen Auffassung bedeutet, im Körper zu sein, ein mentales Körperbild zu entwerfen. Da dieses auf sensorischen Informationen beruht, repräsentiert es zutreffend die Stellung des Körpers im Raum. Wenn wir träumen, haben wir keinen Kontakt mit unserem Körper und sind daher von den physischen Beschränkungen befreit, die uns im Wachzustand durch unsere Wahrnehmungen auferlegt werden. Somit sind keine hinderlichen sensorischen Fakten vorhanden, die unsere Bewegungen im mentalen Raum einschränken könnten, und wir sind frei, die räumliche Lage zu verlassen, die durch unsere „Anwesenheit im (materiellen) Körper“ bedingt ist.“

   Der Teil von uns, der „den Körper verläßt“, durchquert mentale, nicht wirkliche Räume. Konsequenterweise erscheint die Annahme einleuchtend, daß wir niemals „unseren Körper verlassen“, weil wir nie in ihm drinnen sind. Wo „wir“ uns befinden, wenn wir überhaupt irgend etwas erleben – einschließlich EdK (Erlebnisse der Körperlosigkeit) -, das ist im mentalen Raum. Miltons berühmter Ausspruch, „The Mind is ist own place“ (Der Geist/das Bewußtsein ist sein eigener Ort) geht im Grunde nicht weit genug. Das Bewußtsein ist nicht bloß sein eigener Ort, das Bewußtsein ist sein einziger Ort.“

271: Aber das Traum-Ich ist nicht der Träumende; statt zu träumen, wird es geträumt….

274: Dementsprechend steht das Ich nun in einer angemessenen Relation zum Selbst als dessen Repräsentant und Diener.

275: Transzendentale Erfahrungen sind meiner Ansicht nach insofern förderlich, als sie uns helfen, von fixen Ideen in bezug auf uns selbst loszukommen. Je weniger wir uns mit dem identifizieren, was wir zu sein glauben (das Ich), desto wahrscheinlicher ist es, daß wir eines Tages entdecken, wer wir wirklich sind.

276: (Unser wahres oder totales Selbst sollte fähig sein), „weisere Entscheidungen zu treffen, als unser Ich. Außerdem kennt es, was das Ich vielleicht nicht kennt – unsere höchsten Ziele.“ Und deshalb: „Nachdem der oder die luzide Träumende die Begrenztheit der durch das Ich bestimmten Ziele erkannt hat, tritt er oder sie die Kontrolle an etwas ab, das jenseits dessen liegt, wofür der oder die Betreffende sich hält.“

279:“ Was wird nach dem Tod aus uns?“ LaBerge schreibt, daß unsere Individualität nicht unser wahres Sein sei, sondern nur eine Repräsentation desselben. Das Selbstbild sei nur „ein Gedanke, ein vergänglicher Prozeß, der sich in Zeit und Raum abspielt und der wie alles übrige, was in der Zeit existiert, dazu bestimmt ist, zu enden. Aus diesem Blickwinkel, den wir in Betracht gezogen haben, transzendiert unser essentielles Sein dagegen Zeit und Raum: Unsere transpersonale Identität transzendiert unsere persönliche Identität. Diese unsere transpersonale Individualität könnte sich am Ende als identisch mit der eigentlichen Wirklichkeit erweisen … – das Eine Bewußtsein, die Wirklichkeit selbst. … die Frage, „was werden wir nach dem Tod sein?“ könnte also lauten: „Alles und nichts.“

Diesen Zitaten habe ich nichts hinzuzufügen. Sie stimmen völlig mit der Philosophie Gerhard Roths (und meiner) überein und zeigen meiner Ansicht nach auf, auf welchen Wegen eine zukünftige Traum- und Bewußtseinsforschung schreiten müßte. Es geht nicht nur darum, alles über das Bewußtsein zu wissen, sondern auch darum, vollbewußt zu werden. Eine jede empirische Forschung muß begleitet werden durch Versuche der Forscher, ihr eigenes Bewußtsein zu erweitern, sonst muß die Forschung scheitern. Doch dazu später mehr.

Besonders interessant fand ich LaBerges Äußerungen zur Telepathie, die er aufgrund einiger weniger erfolgreicher Experimente, bzw. Beobachtungen nicht ausschließen konnte:

234: Zum Glück gibt es etwa ein halbes Dutzend wissenschaftliche Demonstrationen von Traumtelepathie.

252: Ich bin der Auffassung, daß es sich bei der geringen Zahl zuverlässiger EdK-Berichte einfach um Fälle von Traumtelepathie handelt. … Die Traumtelepathie ist nur ein halbwegs gesichertes Faktum …

Bei einem anderen Autor, Paul Tholey, der übrigens mit LaBerge in regem Briefwechsel stand [4], fand ich weitere Belege für Telepathie und sogar eine dazu passende Theorie [5], die ich jedoch nicht weiter ausführen möchte, da sie den Rahmen dieses Referats sprengen würde. Nur soviel sei gesagt, daß Tholey davon ausgeht, daß unsere realen Gehirne Teil eines holistischen Universums sind und bei Ich-transzendierung eine mehr oder weniger starke Strukturidentität mit ihm aufweisen, wodurch wir im Prinzip an alle Informationen gelangen können.

Owen Flanagan: Hirnforschung und Träume, Geistestätigkeit und Selbstausdruck im Schlaf [6]

Ich werde hier nicht Flanagans Arbeit nacherzählen; den Text kann jeder selber nachlesen. Ich möchte seine Argumentation nur soweit darstellen, wie ich sie für mein Anliegen brauche.

Flanagan beginnt seinen Aufsatz mit einer Art Rechtfertigung der von ihm unterstützten Hirnforschung. Er beginnt mit den Worten: „Viele glauben, daß neurowissenschaftliche Darstellungen mentaler Phänomene Bedeutung oder Sinnhaftigkeit zerstören“ (491) und gibt zu: „Selbstverständlich verändern neurowissenschaftliche Darstellungen unser Verständnis mentaler Phänomene. Jedoch läßt sich der allgemeine Vorwurf, daß die Hirnforschung inhärent eliminativ, reduktiv oder gar ein Feind der Bedeutung sei, keineswegs stichhaltig erweisen.“ (491)

Ich möchte darauf hinweisen, daß bereits in diesen einleitenden Worten eine Tautologie verborgen liegt, denn die Widerlegung einer Zerstörung der Sinnhaftigkeit soll genau von der Art des Denkens ausgehen, welchem der Vorwurf der Sinnzerstörung gemacht wird, denn unter „erweisen“ ist sicher ein empirisches Erweisen gemeint. (Rationalität und Logik können sich selbst nicht widerlegen; insbesondere kann sie keine Zerstörung von Sinnhaftigkeit aufdecken.)

Außerdem möchte ich hinzufügen, daß neurowissenschaftliche Darstellungen nicht nur unser Verständnis mentaler Zustände verändern, sondern die mentalen Zustände selbst verändern! Das hat weitreichende Folgen.

Ein treffendes Beispiel dafür erlebte ich vor Monaten in meinen Newsgroup – Diskussionen mit Biologen im Internet, mit denen ich über philosophische Aspekte der Evolutionstheorie diskutieren wollte; genauer: über den strukturellen Zusammenhang zwischen Evolutionstheorie und der wissenschaftlichen Methode. Diese Evolutionsexperten besaßen ein ausdifferenziertes Vokabular für biologische und evolutionstheoretische Erwägungen. Sie konnten innerhalb dieses Systems klar denken, aber sie vermochten nicht, ihr System distanziert zu betrachten; sie waren Gefangene des Systems. Der einzige systemsprengende Satz, zu dem sie fähig waren, lautete: „Das ist ja Philosophie!“

Desweiteren erinnere ich noch einmal an meine obigen Ausführungen bezüglich der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit. Für Menschen, die jahrelang wie selbstverständlich in den Bahnen der Relativitätstheorie zu denken gewöhnt sind, ist es nicht ohne weiteres möglich, diese Gewohnheit zu durchbrechen.

Nun wollen wir einmal zusehen, wie Flanagan Neurowissenschaft und Philosophie verbindet.

Er sieht fünf philosophische Probleme in Bezug auf Träume:

  1. Wie kann ich sicher sein, daß ich nicht immer träume?
    2.        Kann ich in meinen Träumen unmoralisch sein?
    3.        Sind Träume Erlebnisse?
    4.        Hat das Träumen funktionale Bedeutung?
    5.        Können Träume weder einer natürlichen Art angehören noch eine adaptionistische, evolutionäre Erklärung besitzen und dennoch einen Sinn ergeben, dennoch die Identität des Träumenden ausdrücken und diese Identität konstituieren?

Die ersten drei Fragen hat Flanagan nur sehr knapp behandelt und meiner Meinung nach zum Teil falsch beantwortet. An meinen Ausführungen über den Radikalen Konstruktivismus wird deutlich, daß wir uns nämlich keineswegs sicher sein können, daß wir nicht immer träumen. Unsere erlebte Welt ist stets geträumt. Daß unsere (mentale) Wachwelt eine gute Simulation einer postulierten realen Außenwelt sei, ist pure Spekulation. Je weiter die Physik fortschreitet, desto deutlicher wird uns die Abweichung unserer erlebten Welt von der Welt, wie sie die Physik erschließt.

Auch die zweite Frage beantworte ich anders, als Flanagan, denn ich behaupte, daß wir in unseren Träumen amoralisch sind. Die Moral taucht in Träumen meist in personifizierter Gestalt auf, zB als Polizist oder Richter, was zeigt, der innere moralische Zensor ist beileibe nicht immer anwesend und ist auch oft nur sehr beschränkt mächtig, sonst könnten wir sie in den Träumen nicht so leicht austricksen.

Erst in der Antwort auf die dritte Frage stimme ich im Ergebnis mit Flanagan überein: Ja, Träume sind Erlebnisse. Es stellt sich nur die Frage: Wessen Erlebnisse? Schließlich ist das Ich im Traum auch nur geträumt. Kann ein geträumtes Ich Erlebnisse haben? Oder hat mein „reales Ich“ diese Erlebnisse? Dann kann ich sie allerdings erst nach dem Aufwachen haben, weil ich dann erst bewußt bin. Man kann natürlich aus den Traumerlebnissen auch schließen, daß man auch ohne Ich Erlebnisse haben kann – ein Gedanke, der vielen Menschen Probleme macht…

Die vierte Frage beantwortet Flanagan so, daß er Träume für Nebenprodukte, für automatische Folgeerscheinungen des Schlafzustandes hält. Diese nichtintendierten Folgen seien nicht selektiert worden; die eigentliche Funktion des Schlafs sei die Auffüllung von Neurotransmittern und Hormonvorräten und dergleichen. Ich halte seinen Ausführungen entgegen, daß er es sich zu einfach macht. Mit gleichem Recht könnte ich dann auch behaupten, die Gene seien nicht selektiert worden, da diese ja nur für die Mutation zuständig sind. Selektiert wird erst der Körper. Ich denke, man muß den Menschen als Ganzes sehen. Traumzustände sind auch Zustände. Ein Mensch, der träumt, kann mehr Zustände einnehmen, als ein nichtträumender. Er kann flexibler mit der Umwelt umgehen. Wesentlich gravierender ist jedoch die Tatsache, daß Flanagan hier die Evolutionstheorie ins Spiel bringt und in diesem Zusammenhang Schlüsse zieht, die nach meinen Erkenntnissen falsch sein müssen. Selbstverständlich werden Träume nicht selektiert, denn sie befinden sich ja überhaupt nicht in der physikalischen, bzw. kognitiven Welt! Dazu weiter unten mehr!

Die fünfte Frage erscheint mir ziemlich unverständlich: Was bedeutet: „Können Träume einer natürlichen Art angehören..“? Desweiteren fragt Flanagan, ob Träume eine evolutionäre Erklärung besitzen können und dennoch Sinn ergeben und die Identität des Träumenden ausdrücken, bzw. konstituieren? Flanagan antwortet mit „ja!“, was meint, daß Träume zwar Abfallprodukte der Evolution sind, aber daß sie trotzdem Rückschlüsse auf die Arbeitsweise des Gehirns und auf unsere internen Zustände zulassen. Hier ist der Begriff „Sinn“ mißverständlich benutzt worden, denn es geht dem Autor darum, mit Hilfe von Träumen einen Mechanismus (Arbeitsweise) zu entschlüsseln. Demnach wird hier unter „Sinn“ nur der Zweck verstanden, Sinnhaftigkeit zu eliminieren. Und nicht zuletzt verfällt Flanagan auch bei dieser Frage wieder in eine für die Bewußtseinsforschung unbrauchbare Denkungsweise.

Die folgenden Abschnitte Flanagans Arbeit sollen hier nur kurz umrissen werden, da sie für meine Arbeit weniger wichtig sind und weil der knappen Zeit des Referat wegen immer Opfer gebracht werden müssen. Ich erachte sie allerdings für erwähnenswert, da reine Beobachtungen selbstverständlich auch von einer Theorie wie der von Gerhard Roth berücksichtigt werden müssen. Die in Flanagans Text geschilderten Beobachtungen sind sicher wertvoll; nur den Interpretationen stehe ich mißtrauisch gegenüber.

So erscheinen mir die Forschungsergebnisse bezüglich des Schlafverhaltens von Spezies unterschiedlicher Evolutionsstufen sehr bemerkenswert. Niedere Tiere, selbst Fische, schlafen überhaupt nicht, sondern ruhen sich nur aus. Etwas höhere Reptilien haben NREM-Schlaf, aber keinen REM-Schlaf. Erst die Säugetiere haben durchweg REM-Schlaf. Man schließt daraus, daß der REM-Schlaf eine modernere Erscheinung der Hirnentwicklung ist. Bei der Entwicklung eines menschlichen Individuums ist es umgekehrt: Der Säugling hat sehr viel REM-Schlaf; der Erwachsene wesentlich weniger.

Der NREM-Schlaf ist seiner inhaltlichen Thematik dem Wachzustand ähnlicher, als der REM-Schlaf. Seine Träume sind leichter zu deuten und weniger bizarr, als die REM-Träume.

Ich möchte nun an einigen Beispielen aus Flanagans Text zeigen, wie er sich in seiner eigenen Methode verirrt hat. In seinem 8. Kapitel „Natürliche Funktionen“ (510) präzisiert er seine Aufgabenstellung: „Es handelt sich darum, daß der Schlaf und die Phasen des Schlafzyklus – NREM- und REM-Schlaf – evolutionär selektiert wurden und durch den Selektionsdruck erhalten geblieben sind. Sie sind Adaptationen im biologischen Sinne des Wortes. Allerdings sind die mentalen Aspekte und die luziden Träume … wahrscheinlich Epiphänomene in dem Sinne, daß sie zufallsbedingte Begleiterscheinungen der eigentlichen Funktionen des Schlafes sind.“

An diesem Zitat wird der ganze Irrweg des Autors sichtbar – und der Schlüssel zur wahren Lösung des Problems. Es geht um das Wörtchen „Zufall“.

Die mentalen Aspekte erachtet Flanagan für Epiphänomene, weil sie zufällig sein sollen und daher nicht ins Kausalsystem rückwirken können, denn Zufälle zerstören kausale Mechanismen – materielle, aber auch rationale Erklärungsmechanismen.

Schauen wir einmal nach, was aus dem „Zufall“ wird, wenn wir die Gedanken Flanagans mit Gerhard Roths Modell vergleichen. Dann resultiert nämlich der „Zufall“ aus der Umkehrung der Kausalität. Roth schreibt, daß das reale Gehirn Ursache des materiellen Gehirns sei, und Flanagan meint, das materielle Gehirn sei real und sei Ursache von Kognition. Bei einem ist also das materielle Gehirn Ursache, beim andern ist es Wirkung; bei einem gibt es Zufall; beim Andern nicht. Warum gibt es in Flanagans Modell den Zufall? Weil in einem Abbild nicht alle Aspekte seiner Ursache zu finden sind, wohl aber alle Aspekte des Abbildes in seiner Ursache liegen. Im Baum liegen die Antworten der Fragen, auf die man beim Betrachten seines Schattens kommen kann. Versucht man jedoch vom Schatten eines Baumes auf dessen Seins oder gar Lebendigseins zu schließen, muß man scheitern und letztlich auf den Zufall zurückgreifen, weil man keine Erklärung (Naturgesetze auf der Schattenebene) finden kann.

Der ZUFALL in der Erscheinungswelt weist also immer auf Einflüsse aus einer höheren Sphäre hin, von der aus gesehen es sich durchaus nicht um einen Zufall handelt. Wissenschaftler, für die Träume, Bewußtsein, Wille und dergleichen zufällige Epiphänomene sind, die nicht selektiert sind, weil sie durch das Raster der Evolutionstheorie und aller wissenschaftlichen Modelle überhaupt, durchfallen, mißachten die Begrenztheit ihres Modells und maßen sich Äußerungen außerhalb des Definitionsbereiches ihres Modells an.

Schluß:

Tholey schreibt:[7] „Wertheimer hat in seinem Beitrag ‚Über Gestalttheorie‘ (1925) auf die Möglichkeit einer einheitlichen und umfassenden Feldtheorie hingewiesen. Er sagt, daß zwar jedem von uns nur ein Teil der gesamten Welt gegeben sei, aber er weist auf die Möglichkeit hin, ‚an einem Teil des Ganzen zu erfassen, irgendetwas zu ahnen von dem Strukturprinzip des Ganzen, wobei dann die Grundgesetze nicht irgendwelche Stück-Gesetze sind, sondern Charaktergesetze dessen, was geschieht‘ (S. 120). Das ganzheitlich feldtheoretische Modell wendet Wertheimer auf alle Wissenschaften an; einen Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaften gibt es in der Gestalttheorie nicht, und es ist von diesem Standpunkt aus nicht einzusehen, warum gerade derjenige Ausschnitt der Natur, den wir am besten kennen, die Erlebniswelt, von den etablierten Naturwissenschaften, einschließlich der vorherrschenden psychologischen Richtungen, ausgeklammert wird.“

Es ist zwar nicht einzusehen, aber es genau dies scheint momentan in der modernen Bewußtseinsforschung stattzufinden: der Versuch, unsere Erlebniswelten aus den Naturwissenschaften auszuklammern. Mit meiner Arbeit kämpfe ich dagegen an.

[1] Gerhard Roth: „Erkenntnis und Realität: Das reale Gehirn und seine Wirklichkeit“, „Autopoiese und Kognition: Die Theorie H. R. Maturanas und die Notwendigkeit ihrer Weiterentwicklung“ in „Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus“, herausgegeben von Siegfried S. Schmidt 1987

[2] Ausführlichere Vorstellung und kritische Rezension Roths Aufsätze in: http://hanjoheyer.de/Gehirn.html

[3] Stephen LaBerge: Lucid dreaming, dt: Hellwach im Traum 1991

[4] http://www.enabling.org/ia/gestalt/gerhards/thol_biblio.html

[5] Paul Tholey: die Entfaltung des Bewußtseins als ein Weg zur schöpferischen Freiheit – vom Träumer zum Krieger. In Bewußt Sein, Vol. 1 No. 1, 1989, Kapitel 1.7 http://www.surselva.ch/oobe/tholey02.htm

[6] Owen Flanagan: Hirnforschung und Träume – Geistestätigkeit und Selbstausdruck im Schlaf, in Metzinger (Hrsg.): Bewußtsein, 1996

[7] Paul Tholey: die Entfaltung des Bewußtseins als ein Weg zur schöpferischen Freiheit – vom Träumer zum Krieger. In Bewußt Sein, Vol. 1 No. 1, 1989, Kap. 1.6: Zum Leib-Seele-Problem

von Hans-Joachim Heyer
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