Hans-Joachim Heyer

Der Mann im Vogelkäfig

(1988) Als ich vor ein paar Nächten in einem Traumuniversum auf einer Traumerde lebte, befand ich mich in der knöchernen Halle eines Wohnzimmers. Tief unten im Keller des Hauses vernahm ich ein leises, doch schreckliches Wimmern und Röcheln eines sterbenden Mannes. Vor Angst fast gelähmt, wankte ich den dunklen, von Spinnenweben verhangenen Treppengang hinunter, um meine Pflicht zu tun und dem Mann zu Hilfe zu kommen. Schauerlich hallte das geflüsterte Ächzen im weiten Raum, neben mir, vor mir, über mir, unter mir – in mir! Die sterbende Stimme rief von überall her. Ich verlor völlig die Orientierung, sodaß ich überrascht war, plötzlich hinter einem Lehnstuhl aus Korbweide zu stehen!

In diesem Stuhl versunken, saß ein dürrer, alter Mann mit bleichem Gesicht. Mit müden Augen schaute er mich an, aber er war es nicht, der stöhnte! Die Hilferufe kamen von tiefer her! Es mußten noch geheimere Räume unter dem Keller existieren. Schon wollte ich mich von dem Mann abwenden, um dem Ruf entgegenzueilen. Aber mein Gewissen hielt mich zurück: bedurfte der Alte nicht auch meines Beistandes?

Ich zögerte, und in dieses Zögern hinein sagte der Mann väterlich zu mir: „Die Liebe ist das Wesentliche der Welt! Vergiß das nicht. Denn wer liebt, sieht das Schöne, und wer das Schöne sieht, wird nicht alt. Und wer ewig jung bleibt, an dem geht alles vorüber: Kummer, Leid, Angst, Pflicht, das ganze sinnlose, aufgeblasene Getue der Menschheit. Er selbst in seinem Glück kann höchstens zuschauen, und es bleibt ihm nur das Mitleid für die geschundene Kreatur.“

Während der Sterbende das erzählte, zitterte ich vor Ungeduld, denn die Hilferufe von ganz unten wurden immer eindringlicher. Als der Mann im Lehnstuhl endlich schwieg und die Augen schloß, wollte ich sofort aufbrechen, doch noch bevor ich das Zimmer verlassen hatte, wachte ich auf. Nun müssen die gequälten Hilferufe ungehört im knöchernen Saal meines Wohnzimmer verhallen! Heute, mitten am hellichten Tage, öffnete ich irgendein Buch und las:

„Der Mensch baut sich aus dem Wissen der Bücher einen vergoldeten Käfig, in den er seine lebendige Seele einsperrt. Die Gelehrten sind nur bunte Papageien in verschiedenen Käfigen, und jeder will das sicherste Gefängnis haben. Ihre armen, verdorrten Seelen verbrennen an der Kälte der stählernen Gitter.“

Jetzt weiß ich was da so tief unten leise ächzt und zu sterben droht, wenn ich mich nicht schleunigst verwandle: Ich selber! Ist nicht das Buch, das ich schreibe, nicht auch mein Käfig?

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