Hans-Joachim Heyer

Die Brunnengräber

(1988) Es waren einmal viele Brunnengräber. Sie gruben ein tiefes Loch in die Erde, um an die unterirdischen, verborgenen Seen mit dem heiligen, erlösenden lebendigen Wasser zu gelangen. Unter der Sonne gab es zwar genügend Wasser für alle Menschen, aber die Reichen besaßen es und schlossen alle Anderen von seinem Genuß aus, denn sie hatten, so sagten sie, sehr viel Geld dafür bezahlt und müßten darauf achten, daß das Wasser sauber bleibe. Außerdem sei das Wasser der Tiefe unendlich viel wertvoller.

Die Reichen waren also sehr großzügig. Außerdem versorgten sie die Brunnengräber mit allem, was sie brauchten. Ein Jeder hatte Arbeit, und die Klugen wurden sogar auf die Universität geschickt, wo sie lernen konnten, wie man Brunnen gräbt und weniger intelligente Menschen anleitet und beaufsichtigt.

Viele hundert Jahre gruben die Brunnengräber nun schon an ihrem Brunnen und machten jedes Jahr große Fortschritte. Schon wußten sie nicht mehr, wie es unter der Sonne aussah und sich lebte. Aber die Reichen waren sehr großzügig. Sie stellten überall im Brunnen Kästen auf, die pausenlos Bilder von der Welt unter der Sonne zeigten, so sagten sie. Es mußte sehr gefährlich da oben sein, zeigten die Bilder, denn viele Sterbende und Tote waren darauf zu sehen. „Welch ein Glück!“, sagten die Brunnengräber, „daß es hier unten sicherer ist“!

Es gab zwar ein paar Spinner unter den Brunnengräbern, die sagten, die Wände würden bald zusammenstürzen, wenn man immer so weitergraben würde, aber die Gelehrten, die in der Universität gelernt hatten, wie man Brunnen gräbt, sagten, sie hätten schon fast fünfundzwanzighundert Jahre gehalten und nach ihren Berechnungen sei die Wahrscheinlichkeit, daß sie in diesem Jahrhundert noch brechen würden, bestenfalls einz zu vierundzwanzighundert; es sei also praktisch unmöglich. Außerdem könne niemand beweisen, daß ein derartiges Unglück überhaupt geschehen könne. So hatten es die Gelehrten gelernt. Sie taten ihre Schuldigkeit.

Die meisten Brunnengräber glaubten natürlich den Gelehrten und gruben fleißig weiter. Schon lange waren die Wände feucht; bald würde man auf das ersehnte freie Wasser stoßen. Kaum jemand beachtete die warnenden Stimmen, denn auch die Warner hörten nicht auf das, was sie selbst forderten und beteiligten sich am großen Werk. Das machte sie unglaubwürdig. Das Gesetz >Ohne Arbeit kein Brot!< galt leider für alle Brunnengräber. Vielleicht wären die Warner besser verhungert.

Immer mehr Wasser drang aus den Brunnenwänden. Plötzlich schossen die Fluten durch milliarden geöffneter Poren und ertränkten die Brunnengräber mit Mann und Maus. Sie hatten ihr eigenes Grab gegraben!

Die Gelehrten hatten sich offensichtlich nicht geirrt! Die Brunnenwände hielten stand. Das hatten die Reichen und die in ihre Schule gegangenen Warner nicht bedacht. So sammelte sich das ganze Wasser im Brunnen, der Grundwasserspiegel sank, die Welt unter der Sonne trocknete aus und alle Reichen verdursteten jämmerlich, denn in die Tiefe zu gehen vermochten sie nicht..

Übrig blieb nur der Einsiedler, der sich von den Armen und Reichen verabschiedet hatte mit den Worten: „Ich bin nicht von dieser Welt!“ Aber das ist eine andere Geschichte.