Zbigniew Brzezinski, ein Politikwissenschaftler und Berater etlicher US-Präsidenten, ein Militärstratege, der sich stets bemühte, die großen Zusammenhänge zu sehen, betrachtete die Welt als ein großes Schachspiel. Dabei erkannte er die Orte, an denen Rohstoffe lagern, als Energielieferanten, und die aus ihnen gewonnene Energien sollten durch eine geschickte Politik aus Diplomatie und Krieg nach Amerika gelenkt werden. So griff Brzezinski auch die schon ältere Erkenntnis auf, dass die USA nur dann Weltmacht werden/bleiben könne, wenn es gelinge, Eurasien wirtschaftlich und politisch zu spalten und gespalten zu halten und beide Teile in Kriege gegeneinander zu führen. Denn ohne Krieg Europas gegen Asien sei Nordamerika zu schwach, um Weltmacht werden oder bleiben zu können. Dieser Logik haben wir Dutzende Kriege, auch die beiden Weltkriege, zu verdanken. Hitler und Stalin waren nur Spielfiguren im großen Schachspiel; die Schachspieler waren Andere. Verträgt sich diese Denkungsweise eigentlich mit dem Neoliberalismus, der Ideologie der aktuellen Schachspieler? Für Brzezinski gab es noch weiße und schwarze Figuren, und es gab Könige, Damen, Läufer, Springer und Bauern, und jede Figur hatte ihre spezifischen Eigenschaften. Im Spiel entsteht ein kompliziertes Räderwerk aus dem Zusammenspiel von Brett und Figureneigenschaften, und ohne das Ziel, den gegnerischen König schachmatt zu setzen, funktioniert auch dieses Zusammenspiel nicht. Ohne Ziel würden die Figuren bloß sinnlos auf dem Brett hin und herziehen. Ich behaupte nun, dass die neoliberale Religion (der Neoliberalismus ist mehr, als ein Wirtschaftssystem) ihr Ziel zerstört hat; jedes wirtschaftliche Handeln hat diese Religion des Sinnes beraubt, sinnlos blind gemacht. Früher, als die Briten noch Weltmacht waren, war die Welt noch leicht zu verstehen: Die Briten eroberten fremde Nationen, bauten die Infrastruktur aus (ich glaube, man nannte das damals noch nicht „Entwicklungshilfe“) und plünderten die besetzten Nationen mit Hilfe der Infrastruktur aus. Und Britannien wurde Groß Britannien und schwelgte im Reichtum. Die fremden Könige wurden nach klassischen Regeln schachmatt gesetzt. Und heute? Die Konzerne geben Aktien heraus und können über diese Papiere scheibchenweise überallhin verkauft werden. Das hatte zur Folge, dass ein deutscher Konzern längst kein deutscher Konzern mehr ist. Wer hat die Aktienmehrheit von Mercedes-Benz oder von Siemens? Ein Deutscher? Ein Amerikaner? Ein saudischer Scheich? Ein afrikanischer Waffenhändler? Es spielt keine Rolle mehr, wem der Konzern gehört. Und es spielt heute auch keine Rolle mehr, wo der Konzern seine Autos baut: in Deutschland, in China, in den USA oder irgendwo in Afrika. Diese Konzerne haben keine Häuser mehr, in denen sie wohnen; sie sind Vagabunden, und Steuern zahlen sie längst nicht mehr. Die Nationen gibt es nur noch auf dem Papier; sie halten sich mit horrenden Verschuldungen bei den Konzernen noch eine Weile am Leben, aber ihre Macht haben sie längst an die Privaten verloren. Aber auch die Konzerne haben sich weitgehend aufgelöst. Sie sind staatenlos, das Eigentum ist weitgehend über den Globus verstreut, und wenn es hie und da noch eine Familie gibt, über eine Aktienmehrheit verfügt, so wird auch diese gesichtslos, weil sie immer nur mit Gesichtslosen zu tun hat. Im modernen Schachspiel gibt es weder schwarze, noch weiße Felder, noch Spielfiguren mit definierten Eigenschaften. Könige wurden zu Bauern; Bauern zu Königen; ein Schachmatt ist ganz abgeschafft; es gibt keine Gewinner und keine Verlierer. Die Regeln darf jeder selbst bestimmen. Schönes neues Schachspiel! Was Deutschland ist oder was die USA sind, wird von irgendwelchen Statistikern definiert. Es gibt noch Einfuhr, Ausfuhr, Staatsverschuldung, Bruttosozialprodukt usw., aber eben nur noch auf dem Papier der Statistiker. Was sind diese Zahlen wert, wenn die USA in China produzieren lassen und die Gewinne deutscher Konzerne gar nicht Deutschen gehören? Das globale Wirtschaftssystem ist kein System mehr. Der Neoliberalismus hat alles aufgelöst. Er hat nicht nur den Sinn des Wirtschaftens zerstört; er hat auch die Menschen zerstört, die in diesem Nichtsystem leben sollen. Den Menschen wurde eine neoliberale „Bildung“ zugeteilt, und diese „Bildung“ ist keine Bildung, sondern ein Abriss. Im Neoliberalismus gibt es, so lehren ihre Lehrer, keine Wahrheit. Alles Materielle ist bezogen auf anderes Materielles. Alles ist relativ; alles ist gleichviel, also gleichwenig, also gleich nichts wert. Schwarze sind wie Weiße, Kinder sind wie Erwachsene, Frauen sind wie Männer und umgelehrt. Menschen sind Säugetiere und haben wie diese weder Willensfreiheit, noch Bewusstsein, noch eine Seele. Es gibt keine Bedeutungen, keinen Sinn, keine Ziele. Es gibt nur tierische Emotionen im Menschen, und diese sind grundlos und ohne Sinn. Der Verstand, die Intelligenz des Menschen, hat keinen Anhaltspunkt mehr; die Welt ist so schmierig geworden, dass die Intelligenz nirgendwo mehr anpacken kann. Das Spiel ist rein ideologisch schon zu Ende. Das ganze Spiel ist schachmatt! Nun gibt es ein paar Leute, die sich ihren Verstand bewahrt haben, weil sie dem trügerischen System keinen Glauben geschenkt haben. Sie haben ihr Denken aus einer anderen Quelle gespeist, als offizielle Schulen und Universitäten boten. Sie haben sich die Definitionen, die der Anfang der Denkfähigkeit sind, nicht durch das Toleranzgeschwätz der offiziellen Lehrer zerstören lassen. Sie haben ihrem Denken eine sichere Basis erhalten: die absolute Ethik, statt beliebiger menschengemachter „Menschenrechte“ aus verhandelbaren, käuflichen und verkäuflichen Normen, die keine Normen sind. Der Neoliberalismus war gedacht als System der Monopolisierung von Reichtum und Macht. Das System sollte die Herrschaft EINES Mannes, bzw. EINER Familie über die gesamte Welt ermöglichen. Die Globalisierung war nie als Dezentralisierung der Macht, sondern als Mittel des weltweiten Plünderns EINER Macht geplant, aber nun, da der Plan endlich aufgegangen zu sein scheint, haben seine Protagonisten gemerkt, dass sie, die ALLES besitzen, nichts mehr besitzen. Wie ist das möglich? Die Reichen und Mächtigen tun nur noch, was ihre Computersimulationen ihnen befehlen. Sie verstehen längst nicht mehr, was sie tun. Und ihr Reichtum? Sie können sich alles kaufen, was sie wollen, aber was WOLLEN sie eigentlich? Was nützt ihnen eine 300-Meter-Yacht, wenn man sie nicht genießen kann? Der Kaviar hängt ihnen längst zum Hals raus. Sie sind mit ihren Privatjets zigfach um die Welt gereist, haben alles gesehen, aber alles sieht gleich aus, und sie sehnen sich nach dem einfachen Leben auf kleiner Scholle. Aber das können sie nicht. Und vor allem sehnen sie sich nach Bedeutung, nach Sinn, nach einem Ziel, das über die Welt hinausgeht. sie können sich nicht selbst den Sinn geben. Sie können nicht sagen, das Leben auf kleiner Scholle sei mit einemmal sinnvoll. Auch das geht nicht! Der Sinn, das Ziel der Sehnsucht, muss von außen kommen! Sinn kann man sich nicht selber geben (in der Schule sollte ich Gegenteiliges lernen, aber alles Schulwissen ist, zumindest, was existentielle Fragen anlangt, grottenfalsch). Da steht nun der Multimilliardär, dem jedes Jahr weitere Milliarden wie von selbst zufließen, der sich Konzerne, Politiker und Professoren im Dutzend kaufen kann, der alles, was man haben könnte, im Übermaß, ja im Unmaß, hat, und er kann seinem Leben keinen Sinn, kein Ziel, geben. Er erkennt, dass er dahintreibt wie ein vertrocknetes Blatt im Wind; er spürt, dass er selbst sich auflöst in einem unendlichen Nichts. Und das Schlimmste ist: Die Massen hängen an seinem Munde und saugen gierig alle Worte auf, die er sagt, als sei er ein Prophet. Aber er ist ein Prophet des Nichts; ein Prophet des Untergangs.Nichts ist er; nichts kann er tun, um dem Nihilismus zu entkommen. Er kann nur hoffen, dass es einen Größeren gibt, der sich seiner erbarmt und ihm, der einst lebte, wieder Leben einhaucht. Diesen Größeren gibt es. Und er will sich sogar seiner erbarmen, aber kann der Milliardär, der alles hat, ein >Letztes Geschenk< annehmen? Kann er den Paradigmenwechsel vollziehen? – Er kann es nicht, wenn er sich nicht erniedrigt und Gott um Gnade und Vergebung bittet. Wie sieht die Welt heute aus? Die hoffnungslosen Nihilisten haben immer noch das Sagen. Mit ihren Lügen und Betrügereien haben sie sich ihren Verstand versaut. Sie wollten die Völker der Welt verblöden, aber nun sind sie selber blöde geworden. Sie hätten nicht ihre eigenen Zeitungen lesen sollen. Sie sind zum Morast geworden, und in diesem Beliebigkeits-Sumpf erscheinen kleine Zwerge mit einemmal wie Riesen. Wo sich der Wille der Mächtigen aufgelöst hat, wird mit einemmal ein kleiner Wille mächtig. Die seit Jahrhunderten zurückgedrängten Schirmherren, die Guten Hirten, werden wieder sichtbar, jene, die wissen, was zu tun ist.
Hans-Joachim Heyer