Hans-Joachim Heyer

Johannes und der alte Mann

Vorsichtig arbeitete sich der 15-jährige Johannes den dicht bewaldeten Berghang hinunter, über niedrige Äste steigend, zwischen Haselnußsträuchern und Birken hindurch, stets darauf achtend, daß er auf dem schneebedeckten Boden nicht ausrutschte.

Endlich stand er wieder vor der Höhle, die er gestern am späten Nachmittag bei einer seiner einsamen Exkursionen zufällig entdeckt hatte. Sicherheitshalber zog er seine blaue Windjacke aus und hängte sie breit über einige herabhängende Äste. So könnte man ihn vielleicht finden, falls ihm in der Höhle etwas zustieße. Sicher würde ihm bald kalt werden, aber er hatte ja nicht vor, sich allzulange in ihr aufzuhalten. Mit der Taschenlampe in der Hand, machte er sich nun auf den Weg.

   Kaum hatte er den Eingang hinter sich gelassen, da stieß er sich schon den Kopf an der Decke. Au, hat das wehgetan! Aber nur halb so schlimm; der Schmerz ließ schnell nach, und schon wenige Sekunden später lockte ihn seine Neugier weiter in die Unterwelt hinein. „Komisch! Es ist gar nicht kalt hier“, stellte er verwundert fest.

   Allmählich weitete sich die Höhle etwas, sodaß er gut aufrecht gehen konnte. Auch der Boden war fast eben und trocken.

   „Oh weh, wenn ich jetzt die Taschenlampe nicht hätte, dann würde ich total im Dunkeln stehen!“ – Ein Schaudern lief ihm über den Rücken. Aber die Taschenlampe mit ihren frischen Batterien strahlte außer dem Licht noch etwas wie Geborgenheit und Sicherheit aus. Um das prickelnde Gefühl des Schauderns und die Erleichterung danach intensiver zu spüren, entschloß er sich, sie für mindestens eine Minute auszuschalten.

   „Huch, was ist denn das? Es ist ja gar nicht völlig dunkel!“ wunderte Johannes sich, und schon fuhr ihm der Schreck in die Glieder. Keine fünf Sekunden nach seinem mutigen Entschluß brannte die Lampe wieder.

   Ganz hinten in der Höhle schimmerte ein bläuliches Licht. Es war noch nichts Genaues zu erkennen. Er mußte näher heran. Langsam schlich er auf den matt leuchtenden Fleck zu. Es war kein Tageslicht, das merkte er nun, denn es flackerte wie eine Kerze. Bald darauf hatte er die erhellte Stelle erreicht. Die Höhle machte hier einen scharfen Knick nach rechts, und als Johannes einen scheuen Blick um die Ecke warf, blieb ihm fast das Herz stehen!

   Da saß, zwischen zwei großen, brennenden Kerzen, ein alter, bärtiger Mann mit langen, schlohweißen Haaren in einer Art Schneidersitz auf dem nackten Boden und schaute Johannes genau in die Augen. Der Blick des Alten strahlte so viel Freundlichkeit und Güte aus, sodaß der Junge nicht einen Moment zu fliehen gedachte, und der erste Schreck wich schnell einer eigenartigen Faszination. Wie gebannt starrte er den Mann und dann die Kerzen an.

   Was waren das für Kerzen! Die linke hatte eine tiefblaue Flamme. Sie warf auf die rechte Höhlenwand einen schwarzen Schatten des Mannes, und die rechte Kerze, also sowas hatte Johannes noch nicht gesehen: sie hatte eine pechschwarze Flamme, aber doch sichtbar, etwa wie schwarzer Rauch, der alles Licht der Umgebung aufzusaugen schien. Und das seltsamste: Auch diese Flamme warf einen Schatten des Mannes auf eine Wand – auf die linke – und dieser Schatten leuchtete in hellem Blau, ungefähr so, wie ein wolkenloser Himmel über dem Meer.

   Der alte Mann wischte sich eine Haarsträhne von der Stirn und sprach mit sanfter Stimme:

„Komm nur näher, mein Junge, hier bist du richtig. Du bist doch gekommen, mich etwas zu fragen!“

„Eigentlich nicht“, antwortete Johannes noch etwas unsicher. „Ich wußte ja gar nicht, daß jemand hier ist.“

   Mit fragendem Blick entgegnete der Alte: „Aber wo sollte ich sonst sein? Es ist doch deine Höhle!“

„Wieso ist es meine Höhle? Wer bist du überhaupt?“

„Es ist deine Höhle, weil du in deine Tiefe hinabgestiegen bist, und ich – ich bin der Weise, denn ich habe keine Fragen, keine Wünsche und keinen Weg. Ich habe keine Urteile und kein Ziel. Ich bin tot, aber dem, der zu mir kommt, bin ich das Leben, das Urteil, der Weg und das Ziel.“

   Johannes glaubte, etwas Ähnliches schon einmal gehört zu haben, aber er konnte sich nicht mehr erinnern. Außerdem verstand er die Antwort überhaupt nicht. Vielleicht sollte er besser eine ganz konkrete Frage stellen:

„Was geschieht, wenn ich die schwarze Flamme ausblase?“

„Dann erlischt auch die blaue, und die Welt erscheint nicht mehr.“

   Der Alte sprach in Rätseln, aber Johannes gab noch nicht auf; die Gelegenheit, auf jede Frage eine Antwort zu erhalten, wollte er schon wahrnehmen:

„Warum bin ich in der Schule so schlecht, und was muß ich tun, um besser zu werden?“

   Der Weise kehrte seinen Blick nach innen und begann langsam und fast jedes Wort betonend zu sprechen: „Weisheit und Wissen bekämpfen einander und doch braucht eines das andere. Das Wissen kommt von außen und die Weisheit von innen. Beide wollen dein Handeln bestimmen. Handelst du durch das Wissen, so ist es eine fremdbestimmte Handlung. In diesem Fall bist du ein Sklave anderer Menschen und  Mitglied einer Gemeinschaft von Menschen. Handelst du durch die Weisheit, so bestimmst du dein Handeln selbst. In diesem Fall bist du frei, aber ein Außenseiter.

  Wissen und Weisheit, sowie fremdbestimmtes und selbstbestimmtes Handeln, schließen einander aus, und doch ist das Leben ein Pendeln zwischen diesen Extremen oder der Versuch, das einander Ausschließende gleichzeitig zu tun. Als du auf die Welt kamst, hattest du dich schon entschieden: Dein Pendel zeigte mehr auf Weisheit, als auf Wissen, und aus diesem Grund fällt dir das Lernen von Wissen schwer und das von Weisheit leicht. In der Schule wird Wissen belohnt und Weisheit bestraft. Darum bist du dort so ‘schlecht’.“

   Obwohl der Alte sehr langsam und deutlich sprach, konnte Johannes ihm einfach nicht folgen. Er verstand die Worte, aber sie kamen ihm vor wie leere Hüllen. Entmutigt wandte er seinen Blick ab, ließ den Alten reden und beobachtete stattdessen die beiden Kerzen.

   Da machte er eine interessante Entdeckung: Das Flackern beider Flammen mußte irgendwie zusammenhängen; wurde die blaue größer, dann verkleinerte sich die schwarze und umgekehrt – als müßten sie sich um das Wachs streiten.

   Der Alte mußte gemerkt haben, daß Johannes nicht mehr zuhörte, denn mitten in seinen Erklärungen stockte er und sah zum Jungen auf.

„Du hast es also bemerkt, mein Sohn!“

   Johannes schreckte aus seinen Gedanken auf, als er gewahr wurde, daß der Alte mit ihm redete.

„Oh, entschuldige, ich hatte gar nicht zugehört. Tut mir leid“, erwiderte er verlegen.

„Aber das macht doch nichts, mein Junge. Man wird nicht weise durch Zuhören – im Gegenteil: Man wird weise, indem man das Wissen in sich selbst entdeckt, so, wie du momentan im Begriff bist, das Wesen der beiden Kerzen zu entdecken. Vertraue dem, was dir in den Sinn kommt und lüfte das Geheimnis der Kerzen!“

   Während der Alte dies sprach, war es Johannes recht eigenartig zu Mute. Er wußte, daß er gleich etwas sagen würde, aber er wußte nicht, was. Und als er es dann sagte, war ihm, als spräche ein Anderer mit seiner Stimme.

„Die beiden Flammen bekämpfen einander, und doch brauchen sie sich. Also haben sie denselben Ursprung.“

„Richtig!“ rief der Alte erfreut. Du hast das UNIVERSALGESETZ entdeckt. Nach diesem Gesetz ist aus dem ALL-EINEN das ganze Universum mit allem darin entstanden. So schieden sich Licht und Materie, Geist und Erscheinungswelt, Weisheit und Wissen, Gut und Böse, Stark und Schwach, Links und Rechts, kurz: alles entstand durch Trennen in zwei Teile und vergeht durch Verschmelzung miteinander – aber auch Trennen und Verschmelzen haben einen gemeinsamen Ursprung.“

   Plötzlich verstummte der Mann. Seine Konturen schienen zu verschwimmen. Erschrocken rief der Junge: „Alter Mann, was ist mit dir los? Kann ich dir helfen?“

   Der verzog aber nur seinen Mund zu einem gütigen Lächeln und sagte mit immer leiser werdender Stimme:

„Weiche nicht dem Leben aus! Fürchte nicht den Tod! Kenne dich im Spiegel der Welt!“

   Die letzten Worte klangen wie aus weiter Ferne zugerufen. Er war beim Sprechen zu einem kleinen, hell leuchtenden Punkt zusammengeschrumpft, und die Stelle, an der er vorher gesessen hatte, erschien in tiefstem Schwarz. Bei genauerem Hinsehen entdeckte Johannes noch viel mehr dieser hellen Punkte. Sie sahen aus, wie Sterne im Weltall! Die glühenden Punkte bewegten sich. Sie zogen sich immer mehr um eine Art Zentrum zusammen. So entstanden helle und dunkle Streifen, die sich langsam krümmten und schmäler wurden. Die Sterne verdichteten sich zu leuchtenden Nebeln. Eine helle, flache Scheibe tauchte vom Rand des Blickfeldes auf und rückte ins Zentrum. Spiralarme lagerten sich um sie herum. Eine ganze Galaxie schwebte nun vor dem Jungen.

   Auch sie wurde kleiner, weitere Galaxien gesellten sich hinzu. Bald waren selbst die Galaxien nur noch Punkte, die sich immer näher rückten. Von außen wanderten immer mehr Punkte nach, und es dauerte nicht lange, da strahlte die ganze Höhle im hellsten Licht – so hell, daß die  Höhlenwände selbst zu leuchten begannen und es nichts mehr gab, außer dem Licht.

   Dann zog sich das Licht zusammen und verdichtete sich zu einer menschlichen Gestalt, die Johannes in jeder Einzelheit glich. Johannes konnte kaum fassen, was er alles erlebte.

„Wie heißt du?“ fragte er sein Ebenbild.

„Ich bin Johannes, dein Schatten. Nimm mich auf, damit du wirst, der du bist.“

  Johannes schritt seinem Doppelgänger entgegen und versuchte ihn zu berühren. Aber sein Griff ging ins Leere. So ging er einen weiteren Schritt nach vorn und verschmolz mit seinem ‘Schatten’. Er hörte noch die Worte: „Geh deinen Weg in Liebe!“ Dann waren er und der Schatten eins, und Johannes fühlte sich vollkommen. Er wußte, daß er die Grenzen von Zeit und Raum überschritten und das Tor zu anderen Universen aufgestoßen hatte. Er würde Jahrmillionen brauchen, um alle Geheimnisse, die seiner harrten, zu erforschen. Aber was waren Jahrmillionen? – Er hatte alle Zeit, die Ewigkeit!

Er verließ die Höhle, klemmte sich die Windjacke unter den Arm und schlenderte singend nach Hause.

   Dort warteten tausend Probleme und Sorgen auf ihn. Aber als Johannes das Haus betrat, flohen sie Hals über Kopf. Ein Lächeln hatte genügt, um all diese Dämonen zu vertreiben.