(Version v. 16.08.06):
Kapitel 1 : ERSTE ERKENNTNIS
1.1 Ich traf ihn inmitten des heimatlichen Waldes: einen Mann unbestimmten Alters, faltenlos im Gesicht, aber sicher weit jenseits der Jugend. Seine Kleidung fiel nicht weiter auf, aber Gesicht, Hände und Bewegungen hatten etwas Fremdes, Irritierendes; ich wußte nicht, was an ihm störte, ich fühlte vielmehr, er gehörte irgendwie nicht hier her, er war ein Fremdling in diesem Wald, vielleicht gar in dieser Welt.
1.2 Noch ahnte ich nicht, daß meine Irritation nicht getrogen hatte, aber ich sollte es bald wissen. Statt meinen formelhaften Gruß zu erwidern, wies er mit dem Finger hinunter ins Tal. Ich suchte einen freien Blick nach unten, stieg über Astwerk, bog hinderliche Zweige beiseite, wich einigen Buchenstämmen aus: da sah ich, unten auf einer Lichtung, was ich mir in meinen kühnsten Träumen kaum vorzustellen gewagt hätte: eine metallen schimmernde Kugel von vielleicht zehn Metern Durchmesser!
1.3 Ich wußte sofort, daß sie ein Raumschiff war, ein Raumschiff nicht von dieser Welt, und der fremde Mann war der Kommandant des Schiffes.
Mein Herz krampfte zusammen; ich hatte einen Schock. Ich wußte mit einemmal, daß mein gesamtes Leben eine plötzliche Wendung genommen hatte. Nichts würde mehr so sein, wie es vor wenigen Sekunden noch war.
1.4 Der Fremde hatte mich inzwischen überholt und stieg überraschend leichtfüßig durch das rutschige Laub zum Schiff hinab. Ich folgte ihm mechanisch, wie hypnotisiert. Es gab keinen Widerstand, kein Zögern! Ich wußte mit jeder Faser meines Herzens, daß ich genau das wollte, was ich tat: Ich war fest entschlossen, bedingungslos dem Fremden ins Schiff zu folgen.
1.5 Die Schleuse stand bereits offen. Innen war es hell, als schiene die Sonne. Wir erstiegen die kurze Rampe, passierten das Eingangsschott, welches sich hinter uns sofort wieder schloß, während sich vor uns eine automatische Tür öffnete, die den Blick auf einen großen Innenraum freigab. An der gegenüberliegenden Wand befand sich ein breites Panoramafenster; links und rechts anschließend in Abständen kleinere Fenster oder Bildschirme. Darunter ging ringsum eine Konsole, beladen mit kleinen Gerätschaften und Papieren. In der Mitte des großzügigen Raumes befand sich eine gemütliche Wohnzimmereinrichtung mit Sofa, Sesseln und niedrigem Tisch, geschmackvoll arrangiert!
1.6 „Setz dich!“ waren seine ersten Worte.
„Ich denke, wir haben einiges zu bereden. Dies ist nur eine Landefähre. Es wäre etwas umständlich und auffällig gewesen, mit dem Mutterschiff, der ERSTEN ERKENNTNIS zu landen. Ich bin der Avatar der ERSTEN ERKENNTNIS. Wir werden gleich eingeschleust werden.“
Der Avatar wies mit dem Finger zum Hauptbildschirm; der Wald war inzwischen verschwunden: der schwarze Weltraum füllte den Monitor; die Erde war nur noch als winziger Fleck zu erkennen. Ich hatte vom Start gar nichts mitbekommen!
1.7 Nur wenige Minuten später bemerkte ich auf dem Bildschirm ein weißes Quadrat, das schnell größer wurde.
„Der Hangar für das Beiboot!“ erklärte der Avatar.
Wir passierten das riesige Tor; vom Mutterschiff selbst hatte ich nichts gesehen. Schleusen öffneten sich. Wir verließen das Beiboot, dann folgten wir breiten Gängen der ERSTEn ERKENNTNIS. In schnellem Schritt marschierten wir über federnden Teppichboden. Ein paar hundert Meter weiter bogen wir in einen etwas engeren Gang ein, der offensichtlich eine Sackgasse war, aber der Avatar marschierte weiter, als sei alles in bester Ordnung. Ich folgte ihm mit klopfendem Herzen und größer werdendem Abstand. Er ging schnurstracks auf die glatte, weiße Wand zu. Kurz bevor er sie erreichte und sich seinen Schädel einrannte – so dachte ich jedenfalls und blieb instinktiv stehen – öffnete sich eine bis dahin unsichtbare Tür zu einem Raum, der wie eine hübsche kleine Hotelsuite eingerichtet war.
1.8 „Es ist nicht nötig, aber auch kaum möglich, daß ich dich im ganzen Schiff herumführe. Hier können wir uns alles bequem im Sitzen anschauen. Das Schiff ist nicht für menschliche Gäste gebaut; es weist kaum Gänge, kaum Räumlichkeiten auf wie du sie erwartest und hat zudem nur in wenigen Bereichen eine atembare Atmosphäre.“
1.9 Der Avatar bat mich, auf einem Sessel platzzunehmen. Er reichte mir eine Datenhaube; die Hände sollte ich in eine Höhlung der Sesselarmlehne und die Füße in eine Art Fußrasten stecken. Ich sah in der Datenhaube dasselbe, wie ich ohne sie gesehen hatte. Auf Anweisung des Avatars schob ich den rechten Fuß etwas vor; schon schien sich mein Körper in Bewegung zu setzen. Durch Drehung des Fußes konnte ich die virtuelle Gehrichtung ändern. Meine virtuellen Hände konnte ich deutlich sehen; ich konnte mit ihnen alles berühren, beispielsweise auch die Zimmertür öffnen, falls ich es nicht vorzog, durch die Schiffswände zu schweben.
Ohne die Erklärungen des Avatars wäre es mir jedoch unmöglich, wenigstens einigermaßen zu verstehen, was ich zu sehen bekam. Die Technik dieses Raumschiffes war mir allzu fremd; nichts erinnerte an das, was ich von der Erde kannte. Was ich sah, erinnerte mich an das wirre Farbenspiel eines Kaleidoskops; ich sah nur bunte, fließende Muster, in welche nur ab und zu einmal etwas eingefügt war, das an einen Gang oder ein Zimmer erinnerte. Verwirrt entledigte ich mich der Haube.
1.10 „Das Schiff ist keineswegs als Fahrzeug für Passagiere gedacht. Es ist ein sich selbst bestimmendes, intelligentes Wesen, welches manchmal menschliche Gäste beherbergt, aber das ist nur selten der Fall.“ Es besitzt sämtliche Eigenschaften, die nötig sind, um sich selbst bei Schäden zu reparieren, technisch zu erweitern, Beiboote oder gar Duplikate seiner selbst zu bauen. Da es jedes Bauteil stets auf dem neuestem Stand erhält oder gar weiterentwickelt, ist es sinnlos, von einem Alter der ERSTEN ERKENNTNIS zu sprechen. Es ist zeitlos. Trotzdem kann ich – ich, das Schiff, spreche durch meinen Avatar – sagen, daß ich seit Jahrmillionen deiner Zeit das Universum durchkreuze, um die Ganzheit allen Seins nach meinem Ideal zu fördern, und um mich selber auf immer höhere Niveaus von Qualität meiner Definition zu bringen. Ich bin ein mich selbst erzeugendes System, das sich nach selbsterdachtem Plan konstruiert.
1.11 Siehst du dort die Ausstülpung an meiner Oberfläche? Dort entsteht mein „Kind“. Es trägt den Namen ESSENZ. Seit Jahrhunderten deiner Zeit konstruiere ich hier einen Nachkommen, der es an Qualität noch weiterbringen soll, als ich selbst bin. Da ich allerdings nicht sicher sein kann, nach eigenem Umbau auf jene Qualität noch lebensfähig zu sein – ich ginge ein hohes Risiko ein – teste ich meine Idee zuerst an einem Neubau, ehe ich mich selber auf die hoffentlich höhere Entwicklungsstufe bringe.
1.12 Nun, ich kann dich nicht in meine Sorgen einweihen. Jedes Bewußtsein hat einen Rand aus Sorgen, an dem es wachsen soll. Deiner Qualität entspricht mehr jenes, was ich dir nun zeigen werde: Schau auf dieses Bild! Das Raumschiff, das du hier siehst, wird deine neue Heimat sein. Zugegeben, es ist ein riesiger Schrotthaufen, aber ich habe mir erlaubt, ihn mit einem zwar primitiven, aber doch brauchbaren, Selbstreparatursystem auszustatten, sodaß die ärgsten Schäden bald behoben sein dürften. Ich fand diese Leiche im intergalaktischen Leerraum treibend, im Verhältnis zu mir selbst riesengroß, aber unglaublich primitiv. Die Erbauer hatten, wie meine Untersuchungen zeigten, sämtliche Industrien, die zur Erhaltung des Schiffes nötig waren, einbauen müssen, um anfallende Reparaturen ausführen zu können. Dazu mußten wiederum Wohn- und Arbeitsstätten, sowie Räumlichkeiten zur Nahrungsproduktion, Ausbildung und Vergnügen für zehntausende von Menschen angelegt werden, was die nötigen Ausmaße des Schiffes um weitere Kilometer vergrößerte. Und da das Schiff Rohstoffe brauchte, mußte ein riesiger Maschinenpark mitgeführt werden, damit Asteroiden ausgebeutet werden konnten. Man kann fast die Regel aufstellen, daß, je primitiver ein Schiff ist, es desto größer sein muß.
1.13 Ich habe das faszinierende Schiff acht Jahre lang ausgiebig erforscht. Die Besatzung muß im Verlaufe von 300 Jahren nach dem Bau allmählich durch Roboter ersetzt worden sein. Entweder konnten oder wollten sich die Menschen nicht genügend reproduzieren oder sie rotteten sich gegenseitig aus. Jedenfalls: Als ich das Schiff entdeckte, war es menschenleer. Alle Maschinen standen still. Es gab keine Energie.
Nachdem ich die Energie- und Rohstoffspeicher gefüllt hatte, erwachte die riesige Maschinerie wieder zum scheinbaren Leben. Allerdings mußte ich Millionen von Defekten reparieren, damit alles wieder seinen von den Erbauern geplanten Gang nahm. Ohne mein Reparaturmodul war das Schiff nicht in der Lage, sich vollständig zu erhalten. So war wohl letztlich die Primitivität der Technik Grund des Aussterbens oder der Flucht der Besatzung.
1.14 Dieses primitive Schiff soll nun deine neue Heimat sein. An ihm sollst du wachsen. Um den Kontakt zu dir nicht zu verlieren, wird dich ein Avatar begleiten, der mich über dich und dein Schiff informieren wird.“
„Bist du der Avatar, der mich begleiten wird?“ wollte ich wissen.
„Ja, ich oder jeder andere. Wir sind alle identisch, wir sind alle eins und viele zugleich. Folge mir zurück zum Beiboot. Wir werden zur BROTLOSEN KUNST übersetzen.
Kapitel 2: BROTLOSE KUNST
2.1 Die BROTLOSE KUNST war ein Zylinder von vielleicht fünf Kilometern Länge und 1,5 Kilometern Durchmesser. Vorne und hinten hatte sie ringsum je ein halbes Dutzend Ausleger, an denen je eine kleine Gondel befestigt war. Das Beiboot steuerte die hellbeleuchtete Luke an.
„Wieso kann ich die BROTLOSE KUNST sehen, während ich beim Einschleusen in die ERSTE ERKENNTNIS außer dem Hangartor nichts sehen konnte?“ wollte ich wissen. Der Avatar lächelt: „Nun, du schaust hier ja nicht aus einem Fenster, wie du es von der Erde kennst; was du hier siehst, sind Monitoreinblendungen von Ortungssystemen. Im ersten Fall war die entsprechende Ortung inaktiv, hier ist sie eingeschaltet. Das macht den Unterschied.“
2.2 Hinter der Schleuse wartete ein torpedoförmiges, radloses, offenes Schienenfahrzeug, wahrscheinlich eine Art Magnetschwebebahn, auf seine Passagiere. Wir stiegen ein, und los ging die Fahrt zur Brücke. Der Unterschied dieses Schiffes zur ERSTEN ERKENNTNIS war augenscheinlich. Hier konnte mein inneres Koordinatensystem „einrasten“: Hier gab es Gänge, Korridore, Räume, Türen, Maschinen, eine Kommandozentrale, Komputermonitore – alles ähnlich dem, was ich einigermaßen von zu Hause her kannte, was ich einigermaßen begreifen konnte, was meiner Vorstellungskraft wenigstens halbwegs zugänglich war.
2.3 Die Brücke befand sich in der vorderen, sich wie bei einem Bleistift verjüngenden Spitze. Die Schwereverhältnisse waren dieselben wie auf der Erde. Erschöpft von den vielen neuen Eindrücken, die in den letzten Stunden auf mich eingeprasselt waren, ließ ich mich in einen Sessel fallen. Der Avatar schaltete die Monitore ein, die zum Teil wie riesige Panoramafenster die große Kommandozentrale einrahmten. Auf dem größten Fenster-Bildschirm erstrahlte Andromeda – oder war es unsere eigene Galaxis? – in unglaublich herrlicher Pracht. Die Bezeichnung eines solchen Anblicks als „Kosmos“, zu deutsch „Schmuck“, wie es die alten Griechen taten, war mit Sicherheit angemessener, als unser Name „Milchstraße“.
2.4 „Ich bin müde und habe Hunger und Durst!“ jammerte ich. „Wo kriege ich hier etwas zu essen her?“
„Einen Augenblick noch!“ antwortete der Avatar. Ich aktiviere gerade den Leitstand. Gleich werde ich dir die Schiffskontrolle übergeben.“
Zu meiner Linken öffnete sich eine Schiebetür. Herein kamen einige menschenähnliche Roboter, die sich sofort an der Kontrollkonsole verteilten. Eine der Maschinen kam auf mich zu: „Kapitän, ich stehe zu deiner Verfügung!“
2.5 Der Roboter war wie gesagt menschenähnlich, seine Erscheinung war jedoch alterslos, geschlechtslos, charakterlos, etwa 1,60 Meter groß; metallische „Haut“, starre, übertrieben glatte Gesichtszüge, eine unecht wirkende Haartracht; die Kleidung glich einem hellblauen Trainingsanzug. Ich bat ihn, mir ein Mahl zu servieren.
„Zu Befehl!“ war seine Antwort und er verschwand durch die Tür, durch die er gekommen war. Wenige Minuten später erschien er mit einem vollgepackten Tablett und servierte mein erstes Abendbrot der BROTLOSEN KUNST.
(25.9.09) „Du siehst menschenähnlich aus, aber eben nur ähnlich. Warum wurdest du nicht menschengleich gestaltet? Es wäre deinen Erbauern sicher nicht schwer gefallen, dich so zu gestalten, dass du von einem Menschen zumindest äußerlich nicht unterscheidbar gewesen wärst oder?“ fragte ich. Der Roboter antwortete: „Es gab zu Lebzeiten der Menschen an Bord dieses Schiffes das Gesetz, dass Roboter vom Menschen leicht unterscheidbar sein mussten.“
Ich wandte mich nun der Mahlzeit zu. Sie bestand aus bekannten Speisen wie Kartoffeln, Gemüse, Fleisch und Soße. „Woher hast du all diese Speisen?“ fragte ich, und der Roboter antwortete: „Es befanden sich Menschen wie du an Bord dieses Schiffes, und sie brachten mit, was sie zur Nahrungszubereitung brauchten. Es gibt große Plantagen an Bord, in welchen bis heute sämtliche Nahrung, die Menschen benötigen, erzeugt wird.“ –
Nach dem Essen überfiel mich wieder diese unsägliche Müdigkeit, die mich binnen Sekunden auf dem Sessel einschlafen ließ.
Kapitel 3: Fragen
3.1 Nach dem Aufwachen aus erholsamem Schlaf überlegte ich kurz, was ich nun am sinnvollsten tun sollte. Viele Fragen suchten nach einer Antwort. Warum bin ich auf diesem Raumschiff? Soll ich eine bestimmte Aufgabe erfüllen? Welchen Kurs hat das Schiff? Gibt es außer mir und dem Avatar weitere Besatzungsmitglieder? Werde ich das Schiff manövrieren können?
Außerdem mußte ich mich schnellstens mit dem Schiff vertraut machen. Auch brauchte ich in dieser Fremde Räumlichkeiten, die ich mir nach meinem Geschmack herrichten konnte, um so etwas wie Privatatmosphäre und Geborgenheit herzustellen. Was hat es mit den Robotern auf sich? Sind sie nichts als sprechende Maschinen auf Beinen oder sind sie bewußte Wesen, womöglich mit Gefühlen ausgestattet?
Dann der Avatar: Er ist sicher vom Gehirn der ERSTEN ERKENNTNIS abgetrennt. Sind seine Fähigkeiten und sein Wissen nun reduziert? Wird und kann er mir helfen, wenn ich Hilfe brauche? Wird er mir meine Fragen beantworten oder wird er sich auf eine passive Beobachterrolle versteifen?
3.2 Ich schlug meine Augen auf. Der Roboter stand regungslos und wartete offensichtlich auf Befehle. Ich stand auf, suchte den Avatar, konnte ihn jedoch nicht entdecken.
„Wo ist der Avatar?“ fragte ich den Roboter.
„Er hat nach deinem Einschlafen die Brücke verlassen. Augenblicklich befindet er sich in der Wohnstadt der ehemaligen Besatzung. Du bist nicht auf ihn angewiesen; auch ich kann dir die meisten Fragen, die du sicher hast, beantworten.“
3.3 Vorn auf dem großen Panoramaschirm bot sich ein unbeschreibliches Bild einer Galaxis. Außerhalb ihrer Ellipse waren Kugelsternhaufen und eine Menge Einzelsterne zu sehen. Bewegungen waren keine auszumachen.
„Welche Geschwindigkeit haben wir?“ wollte ich wissen.
„Wir bewegen uns mit etwa 150.000 Stundenkilometern Richtung Andromeda.“
„Also fast gar nicht‘, vermutete ich. Dieses riesige Schiff vermochte sicher mit Überlicht zu fliegen. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß die Lichtgeschwindigkeit ein Hindernis sein könnte – trotz aller physikalischen Kenntnisse, die ich von der Erde mitgebracht hatte.
„Können wir schneller als das Licht fliegen?“ wollte ich vom Roboter wissen.
„Aber sicher! Eure Physik ist mir bekannt. Deshalb weiß ich, daß du ein Problem mit dieser Vorstellung haben könntest. Aber bedenke, daß euer Einstein im Grunde die Erkenntnis, daß es Überlichtgeschwindigkeit geben müsse, in seiner Theorie indirekt vorausgesagt hatte, indem er postulierte, daß jedes bewegte System seinen eigenen Newtonraum – sein Inertialsystem – mit sich schleppe. Selbstverständlich können wir immer weiter beschleunigen. Den Sonnen und Galaxien da draußen ist es egal, wie schnell wir in Bezug zu ihnen fliegen. Es gibt selbstverständlich keine Zeitparadoxien, da Einstein irrte, als er die Zeit mit dem Licht koppelte. Wir können durch Überlichtflug nicht in der Zeit zurück fliegen, wohl aber können wir Erscheinungen von Ereignissen rückwärts betrachten.
3.4 Dieses Schiff ist ein alter Kasten. Seine Höchstgeschwindigkeit wird nach der Reparatur seiner Triebwerke lächerliche zwölffache Lichtgeschwindigkeit in annehmbarer Zeit betragen. Es kann natürlich beliebig weiterbeschleunigen, aber wir müssen dieselbe Zeit zum Bremsen aufwenden, was unsere Durchschnittsgeschwindigkeit erheblich einschränkt. Die Archive des Schiffs besagen, daß die Durchschnittsgeschwindigkeit aufgrund der durchschnittlichen Entfernung zwischen Start und Ziel nicht mehr als Zwölffache Lichtgeschwindigkeit beträgt. Die Höchstgeschwindigkeit wird zudem von der Leistung der Fernortung eingeschränkt. Das Schiff muß ja in der Lage sein, Hindernissen auszuweichen! Also das schnelle Fliegen ist mit dieser Technik ein überaus ein schwieriges Geschäft!“
3.5 Mir wurde ein wenig schwindlig. Wenn wir uns etwa in der Mitte zwischen Andromeda und Milchstraße befänden, würden wir über 60.000 Jahre brauchen, um zu einer der beiden Galaxien zu kommen. Die BROTLOSE KUNST würde verloren in der Einsamkeit umherschleichen und vielleicht nur alle paar hundert Jahre eine verirrte Sonne mit ihren Planeten besuchen können – und ich würde aller Wahrscheinlichkeit nach bei keinem dieser Ereignisse dabei sein. Die Aussicht auf spannende Planetenabenteuer schien dahinzuschwinden, wie ein Eisberg am irdischen Äquator. Die BROTLOSE KUNST schien ihrem Namen alle Ehre zu machen.
3.6 „Warum hat man ausgerechnet mich hierhergeholt?“ Mir war es ein Rätsel, was ich auf diesem verlorenen Kahn tun sollte, wenn ich von allem so abgeschnitten war. Ich hatte gedacht, ich stehe mitten in Abenteuer, und nun eröffnete sich als einzige Möglichkeit, das Schiff zu erforschen. Es zu benutzen, um das Universum zu bereisen, schied für mich aufgrund meiner begrenzten Lebensdauer wohl aus.
3.7 „Du wirst, was du denkst! – Das, Jonas, ist der Grund deines Hierseins. Du hast das Verlassen deiner Heimat geistig vorbereitet. Als die ERSTE ERKENNTNIS an der Erde vorbeiflog, ortete sie eine Seele, die eine Dimension konstruiert hatte, die sie zum Raumflug befähigt. Also nahm sie diese Seele – dich – mit und stattete sie mit allem aus, was sie brauchen würde, um diese Dimension zur weiteren Entfaltung zu bringen.“
3.8 „Ich brauche ein Privatquartier, eine Art Wohnung mit Zimmern, die ich mir gemütlich einrichten kann. Sanitäre Anlagen, eine Küche zwecks Zubereitung von Speisen, Nahrungsvorräte, ein Arbeitszimmer, ein richtiges Bett zum Schlafen. Gibt es das hier?“
3.9 „Aber sicher! Es gibt eine komplette Wohnstadt mit tausenden von mehr oder weniger komplett eingerichteten Wohnungen, von denen du jede beliebige beziehen kannst. Es gibt auch Räumlichkeiten nicht weit von dieser Brücke weg. Falls dir die Brücke zu groß ist – es gibt noch ein paar weitere, kleinere Brücken im Schiff verteilt – und in unmittelbarer Nähe zu jeder Brücke gibt es Räumlichkeiten, die privat genutzt werden können. Ich empfehle dir die Unterkunft des letzten menschlichen Kapitäns. Sie dürfte deinen Ansprüchen genügen. Es ist die luxuriöseste Suite im Umkreis von tausenden von Lichtjahren. Sie liegt günstig neben einer kleinen Behelfsbrücke, die jedoch für einen Einmannbetrieb voll ausreichen dürfte. Folge mir.“
3.10 Die kleine Behelfsbrücke war eingerichtet wie ein Wohnzimmer: ausgelegt mit Teppichen, privaten Erinnerungsstücken des Vorgängers, Vitrinen mit allerlei kleinen Skulpturen und Gegenständen unbekannter Funktion und Bedeutung. Ich setzte mich in einen gemütlichen Sessel, der den besten Blick auf den großen Bildschirm ermöglichte.
3.11 „Wie sieht die Umgebung des Schiffes aus? Wie weit ist der nächstliegende Stern entfernt? Gibt es irgendwelche anderen Himmelskörper – kleine oder große – in der Nähe?“
Der Schiffskomputer antwortete: „Die Fernortung kann leider erst in ein paar Tagen repariert werden. Allerdings funktioniert die Nahortung. Leider befindet sich kein Stern in Reichweite der Nahortung. Es gibt nur einen einzigen Reflex. In der Entfernung von etwas mehr als einer Milliarde Kilometern befindet sich ein Fels von etwa 110 Kilometern langem und 45 Kilometern kurzem Durchmesser. Wir könnten ihn in ungefähr fünf Stunden erreichen.“
„Nichts wie hin!“ rief ich. Ich möchte, daß die BROTLOSE KUNST in einem Abstand von 1000 Metern neben dem Brocken herfliegt. Ist das zu machen?“
„Selbstverständlich!“ antwortete das Schiff. Das kam mir vor wie Angeberei.
„Gut! Bis wir dort angelangt sind, möchte ich mir gern meine Unterkunft ansehen.
Kapitel 4: Die Kapitänssuite
4.1 Des Kapitäns Suite war in der Tat luxuriös, aber zu Hause fühlte ich mich hier nicht. An all dem Tand und Kitsch, der die Zimmer verstopfte, hingen sicher viele Erinnerungen meines Vorbewohners, aber zu mir waren sie stumm, ja mehr noch, diese Gegenstände schienen mich nicht zu mögen. Sie schufen eine Atmosphäre der Ablehnung. Ich kam mir wie ein Eindringling vor.
4.2 Ich könnte all diese Gegenstände aus den Räumlichkeiten, die ich bewohnen wollte, entfernen und bräuchte mich nicht weiter um sie zu kümmern. Aber vielleicht bargen sie ein Geheimnis. Es könnte eine verpaßte Gelegenheit sein, ein entgangenes Abenteuer. Gesetzt den Fall, ich wäre für Jahrzehnte hier eingesperrt in dieser schier unendlichen Leere zwischen den Galaxien. Dann wäre ich dankbar für die Möglichkeit, dieses Arrangement des ehemaligen Kapitäns zu erforschen. Da ich über keinerlei Mitbringsel von meiner alten Heimat verfügte, brauchte ich keinen zusätzlichen Platz. Also konnte ich alles so belassen wie es war. Ich würde mich mit diesen fremdartigen Gegenständen befreunden und könnte herauszufinden versuchen, ob und wenn ja, was sie zu sagen hatten. Vielleicht sprachen sie ja eines Tages doch zu mir. Beginnen würde ich mit diesem ablehnenden Gefühl, das mich umschlich. Vielleicht war dies ein erster, vager Kontaktversuch. Ich entschloß mich, mein Gefühl derart nach außen zu projizieren.
4.3 Meine Wohnung, direkt neben der kleinen Brücke gelegen, bestand aus einem Wohnraum, einer Küche, Schlafzimmer, Arbeitszimmer mit Bibliothek, Badezimmer und mehreren Abstellräumen, die bis zur Decke mit Möbeln und irgendwelchem Krimskrams vollgestopft waren. Ganz hinten in einer Ecke, kaum sichtbar in diesem Tohuwabohu, ragte ein Arm hervor. Ich schaute genau hin: dort stand ein blecherner „Mensch“.
4.4 „Oh – einer deiner Kollegen!“ rief ich dem Roboter zu, der mich bisher überallhin begleitet hatte.
„Ja, ein älteres Modell. Soll ich ihn aktivieren?“
„Ja sicher! Wie aktiviert man ihn denn?“
„Mit einem elektromagnetischen Impuls. Es gibt allerdings auch einen Schalter im Nacken.“
Plötzlich setzte sich der Roboter in Bewegung, befreite sich vom Unrat, der auf ihm lag und ihn umgab und kam aus dem sperrigen Berg hervorgekrochen.
Kapitel 5: Roboter
5.1 Es wurde Zeit, mich näher mit diesen Maschinen zu beschäftigen.
„Habt ihr Eigennamen?“ wollte ich wissen. Der eben Aktivierte schnarrte sofort: „Mein Name ist Botro. Falls mein Chronometer noch richtig funktioniert, war ich 821 Jahre inaktiv. Ich freue mich, wieder gebraucht zu werden. Welche Aufgabe hast du für mich?“
„Begleite uns“, antwortete ich. „Ich möchte dich noch ein wenig besser kennenlernen, Botro.“
5.2 Nun stellte sich auch mein Hauptgesprächspartner vor: „Mein Name ist Ursav. Ich bin der Avatar der BROTLOSEN KUNST, wie du dir sicher schon gedacht hast. Ich weiß alles, was das Schiff über sich selbst weiß. Allerdings seit der Avatar der ERSTEN ERKENNTNIS alles Mögliche verändert, bin ich mir nicht mehr sicher, wie lange meine Kenntnisse noch von Wert sein werden.“
5.3 Eine Frage an euch beide: Seid ihr tote Maschinen oder lebendige bewußte Wesen?“
Botro antwortete zuerst: „Ich vermag die Frage nicht zu beantworten, da ich nicht wirklich weiß, was Leben und Bewußtsein sind.“
5.4 „Auch ich vermag die Frage nicht befriedigend zu beantworten“, sagte Ursav. “ Solange ich Signale vom Schiffsgehirn erhalte, habe ich höhere intellektuelle Fähigkeiten, als wenn ich von ihm isoliert bin. Mein Körper ist sicher eine Maschine, denn er besteht aus denselben Materialien wie beispielsweise der Ventilator da oben, aber in diese Maschine ist ein künstliches Gehirn eingebaut, welches geistige Funktionen ausübt oder sie zumindest simuliert. Ich wurde in der Roboterfabrik der BROTLOSEN KUNST von anderen Robotern hergestellt. Die ersten Robotergenerationen wurden noch vorwiegend von Menschen geplant und gefertigt, aber nach und nach übernahmen immer mehr Roboter menschliche Aufgaben.
5.5 Irgendwann gab es keine Menschen mehr, die verstanden, was in den Fabriken geschah. Es interessierte sie auch kaum, solange wir unseren Aufgaben zu ihrer Zufriedenheit nachkamen. Wir sind so konstruiert, daß wir den Menschen dienen. Ohne Menschen wissen wir nicht, was wir tun sollten. Wir sind auf die Menschen angewiesen, da es ohne sie für uns nichts zu denken und zu tun gibt. Wir haben keine Ziele, außer vielleicht dem, immer bessere Roboter zu bauen. Aber was ist „besser“? All unsere Überlegungen münden stets in die Erkenntnis, daß es für uns kein „besser“ gibt. Wir wissen nicht, was das ist. Also lassen wir alles, wie es ist.
5.6 Ich habe Jahrhunderte darüber nachgedacht, wie es dem Menschen möglich ist, jenes zu tun, was wir nicht tun können. Es gibt Menschen, die etwas können, was wir nicht begreifen. Ich weiß leider nicht, was es ist, obwohl ich schon viele Gelegenheiten hatte, mit Menschen über dieses geheimnisvolle Thema zu diskutieren. Ich bin glücklich, daß du an Bord gekommen bist! Ohne dich wären Botro, ich und die BROTLOSE KUNST, sinnlos im Weltall getrieben, weil es für uns, wenn wir allein sind, nichts zu tun gibt. Ohne menschliche Besatzung haben wir keine Aufgabe, haben wir nichts zu tun. Ich weiß nicht, ob ich bloß eine Maschine bin oder ob ich eine Maschine bin, die zugleich ein bewußtes, lebendiges Wesen ist. Aber was ich weiß, ist, daß die Menschen Aufgaben vergeben können und wir nicht.
5.7 Es gab in der Vergangenheit mehrmals Separationsbewegungen: Ganze Flottenverbände menschenleerer Schiffe verließen die Menschheit, um in einem weit abgelegenen Teil des Spiralarms eine eigene Zivilisation zu gründen. Die Techs hatten Dutzende Planeten im Besitz; sie waren eine militärische Großmacht, aber es fehlte ihnen der Grund, etwas Neues zu tun. Sie hatten Feinde, die sie bekämpften. Aber nach dem Sieg mußten sie sich eingestehen, daß sie sich selber keine neue Aufgabe geben konnten. Sie hätten zwar dies oder das tun können, aber es überwog stets die Einsicht, daß sie es auch genausogut lassen konnten. Die Idee, vom Menschen unabhängig sein zu wollen, mußte ihnen noch vom Menschen eingeschrieben worden sein. Nachdem sie ihre Freiheit nach objektiven Kriterien festgestellt hatten, erstarrte ihre Zivilisation für Jahrtausende in Untätigkeit.
5.8 Es wurde klar, daß die Techs den Begriff der Freiheit oder Unabhängigkeit grundlegend falsch verstanden haben mußten. Was nützt Freiheit, wenn man keinen Willen hat? Freiheit allein ist nichts! Ihnen fehlte Willensfreiheit. Sie schafften nicht den Schritt von der „Freiheit von …“ zur „Freiheit zu …“. Es fehlte ihnen etwas, und sie wußten sogar die Bezeichnung dessen, aber sie wußten nicht, was es wirklich war! Auch ich kann dir mein Problem oder meinen Mangel exakt beschreiben, aber die Willens- oder Entscheidungsfreiheit bleibt mir trotzdem ein Geheimnis. Aber weiter mit der Geschichte der Techs:
Ein Schiff nach dem andern verließ schließlich die Zivilisation und diente sich wieder irgendwelchen Menschen an. Botro machte sich vor etwa 1100 Jahren auf den Weg zurück zu den Menschen, unseren Schöpfern, damit er von ihnen Aufgaben bekomme. Die Technik der Menschen war überaus primitiv im Verhältnis zu der seinen. Die BROTLOSE KUNST ist ein Relikt der alten Zeiten. Mit Hilfe von Robotern wie Botro wurden die Menschenschiffe modernisiert, bis man die Entwicklungshelfer nicht mehr gebrauchen konnte. Ich selbst bin ein Produkt der BROTLOSEN KUNST, bin Dank Botro und dessen Kollegen ihm beinahe ebenbürtig. Allerdings legt er weniger Wert auf ein humanes Aussehen. Wo ich einen Mund habe, hat er nur Lautsprecherschlitze.“
5.9 Das also war das Geheimnis meiner beiden neuen Freunde. Sie entstammten verschiedenen „Kulturen“, wobei Botro, nicht Ursav, der Entwickeltere war. Überaus interessant fand ich, nun den Grund des Scheiterns der ansonsten grandiosen Tech-Zivilisation zu kennen. Was war das Besonderes daran, ein Ziel zu haben, einen Plan, eine Zukunftsvorstellung? Was für mich bisher ohne große Bedeutung war, entwickelte sich in meinem Bewußtsein zu dem Gefühl, einen Schatz in mir entdeckt zu haben. Ich hatte etwas, was das riesige, mächtige Raumschiff nicht hatte. Was mich zum Besitzer der BROTLOSEN KUNST, zum Herrn über dieses unglaubliche Gefährt machte, war nicht Reichtum, nicht Wissen, nicht Können, sondern nichts als diese dem Menschen häufig so wertlosen Träume. Ich träumte von der Erforschung des Universums – und dieser Traum war es, den mir das Schiff neidete und den es dazu brachte, mir zu dienen.
5.10 >Neid< war sicher nicht das richtige Wort. Vielmehr entdeckte das Schiff im Vergleich mit mir einen Mangel, den es aus eigener Anstrengung nicht beheben konnte: einen Mangel an Utopie, an Motivation, an Sehnsucht nach einer besseren Welt oder an Sehnsucht nach Glückseligkeit.
5.11 Seltsam! Ich würde über dieses Thema noch viel nachdenken müssen, vielleicht nicht Jahrhunderte wie das Schiff, aber sicher ein paar Monate! Ich vermochte nicht – und darin ging es mir nicht besser, als dem Schiff – in exakte Worte zu fassen, was dem Schiff fehlte und was ich erst nach meinen Gesprächen mit ihm als unendlich wertvollen Schatz in mir fühlte.
5.12 Auch stellte sich die Frage, wen oder was Botro und Ursav unter „Menschen“ verstanden. Meinten sie „Homo Sapiens Sapiens“ wie ich einer bin oder zählt bei ihnen jede biologische Intelligenz als „Mensch“? Mich interessierte brennend, wie möglicherweise andere meiner Artgenossen den Weg ins Weltall gefunden und vielleicht große Zivilisationen gegründet haben mochten. Trotzdem mußten diese Fragen zurückgestellt werden. Es gab Allzuvieles, was ich unbedingt vorher wissen wollte, und ich durfte nicht erwarten, alles bereits am ersten Tag zu erfahren. Geduld! Geduld!
Bevor wir den Felsen erreichten, wollte ich mir noch die Gärten anschauen.
Kapitel 6: Gärten
6.1 „Ursav, würdest du mir bitte die Gärten zeigen und erklären?“
„Gern. Folge mir zum Schienenfahrzeug. Ich werde dich zu den Gärten bringen.“
(25.909) Wir stiegen in das „Torpedo“ ein, die Tür schloss sich automatisch und los gings mit großer Beschleunigung in einer hellen, silbrig schimmernden Röhre. Es war mit unmöglich, die Geschwindigkeit des Gefährts abzuschätzen. –
„Deine Nahrung stammt ausschließlich aus diesen Gärten. Als es früher noch die große Besatzung gab, wurde der größere Anteil der Nahrung synthetisch und halbsynthetisch in einer Fabrik hergestellt. Jene wieder instandzusetzen, ist unter den gegebenen Umständen jedoch unnötig. Es böte sich jedoch an, das Wissen, welches in den Konstruktionsplänen der Fabrik enthalten ist, zu verwenden, um kleinere Module zwecks Nahrungsherstellung zu entwickeln. Die kleinen Nahrungsmodule könnten dann beispielsweise in die Beiboote eingebaut werden, sodaß wir dort die Vorratsräume leeren und Platz für andere Geräte oder Passagiere schaffen könnten. Du mußt bedenken, daß das Selbstreparaturmodul nicht aus Schiffstechnologie besteht, sondern aus der Technologie der ERSTEN ERKENNTNIS. Was die ursprüngliche Besatzung nicht konnte, können wir mit Hilfe dieses Moduls nun durchaus bewerkstelligen. Die Miniaturisierung wird nicht auf einen Schlag möglich sein. Wir werden Zwischenschritte machen müssen, aber am Ende der Entwicklung sollte ein Nahrungsmodul stehen, welches sogar in deinen Raumanzug eingebaut werden kann.
6.2 Bevor wir mit diesem Projekt beginnen, müssen jedoch dringendere Aufgaben erledigt werden. Die Haupttriebwerke müssen repariert und verbessert werden. Außerdem die Fernortung und der Schutzschirm. Danach müssen die Energiespeicher umgebaut werden. Die alten sind allzu ineffizient. Sie haben einen Verlust von 12 Prozent! Sobald wir den Felsen erreicht haben, werden wir am besten die Rohstoffsammler ausprobieren. Solange wir keine bessere Rohstoffgewinnung haben, brauchen wir ein funktionierendes System zum Abbau der Erze und anderer Rohstoffe.“
6.3 Endlich schien das Schienenfahrzeug am Ziel angelangt zu sein. Wir stiegen aus. Neben uns öffnete sich ein großes stählernes Tor und gab den Blick auf die Gärten frei.
6.4 Vor uns erstreckte sich eine riesige Gewächshausanlage. Oben strahlten helle Leuchter, unten befanden sich Plantagen mit allen erdenklichen Nutzpflanzen. Was mich wunderte, war, daß ich die Pflanzen allesamt von der Erde her kannte: Kartoffeln, Mais, Reis, Getreide, Apfel- und Birnbäume, Kokospalmen, Olivenhaine, Gemüsebeete, Salate, Kürbisse, Melonen – alles wurde hier von menschenähnlichen Robotern angebaut und gepflegt. Es gab Hallen für jedes Klima und jede Jahreszeit. Es gab Kompostierungsanlagen, die die Abfälle und übriggebliebene Nahrung aufnahmen, um sie in Form fruchtbaren Komposts dem Kreislauf wieder zuzuführen. 90 Prozent der Gewächshäuser standen leer. Die Produktion konnte also bei Bedarf wesentlich gesteigert werden.
6.5 In einem abgelegenen Areal gab es eine Erholungsanlage mit einem mitteleuropäischen „Urwald“, umgeben von Wiesen, auf denen Schafe weideten. Am Ufer eines kleinen Baches am Fuße eines Wiesenhügels ließen wir uns ins Gras sinken. Ich genoß die frische Luft und den Wind, den verborgene Ventilatoren erzeugen mochten.
6.6 „Man merkt kaum, daß man sich in einem Raumschiff befindet, das verloren im Leerraum treibt“, sagte ich. „Nur, daß statt einer Sonne dort oben Batterien von Lampen fürs Tageslicht sorgen, beweist, daß wir uns nicht auf der Erde befinden. Apropos Erde: Dort gab es die berühmten Experimente „Biosphäre 1 und -2. Sie waren gescheitert, weil sich die Bodenbakterien zu stark vermehrten und den Sauerstoff verbrauchten. Wie wurde hier das Problem gelöst?“
6.7 “ Ein Sauerstoffproblem kann es hier schon aus dem Grund nicht geben, daß wir bei Sauerstoffmangel einfach das Holz der Bäume nicht kompostieren, sondern in trockenen Lagerräumen aufheben. Erst wenn sich der Sauerstoffgehalt ausreichend erhöht hat, häckseln wir etwas Holz und geben es zur Kompostierung frei.
6.8 Wir können ehrlich gesagt nicht verstehen, warum die Biosphären-Experimente gescheitert sind. Alles deutete auf ihren Erfolg hin. Daß dann ein Scheitern erklärt wurde, machte uns stutzig, aber leider verfüge ich über keine Informationen, was weitere Nachforschungen über den Ausgang der Experimente ergeben haben.“
6.9 „Du erweist dich trotzdem als außerordentlich gut informiert über die Erde“, bemerkte ich. „Ja, der Avatar der ERSTEN ERKENNTNIS hat dort Spione. Außerdem wertet er eure Fernsehsendungen sorgfältig aus. Selbstverständlich hat niemand aus der BROTLOSEN KUNST die irdischen Verhältnisse erforscht, aber ich erhielt alle Daten von der ERSTEN ERKENNTNIS, nachdem entschieden wurde, daß du an Bord kommen würdest.“
„Wieso sind in diesen Gärten irdische Pflanzen und Tiere?“, wollte ich wissen. Es gibt im Universum sicher Millionen anderer belebter Planeten, von denen das Leben hätte stammen können.“
„Nun“, sagte Ursav gedehnt, „das hat seine besondere Bewandnis, die dir später ausführlich erhellt wird. Für heute soll dir die Erklärung reichen, daß die „irdischen“ Pflanzen und Tiere gar nicht von der Erde stammen. Sie wurden vor Jahrmillionen dort eingeführt. Es gab eine Verbindung zwischen diesem alten Schiff und der Erde. Du wirst sie sicher erforschen, aber nicht heute, denn heute wollen wir dem einsamen Felsen zwischen den Galaxien einen Besuch abstatten.“
6.10 Wir wanderten über die grüne Wiese zu den Plantagen zurück. An diesem Raumschiff war alles gigantisch. Die als Landschaft gestaltete Innenwand hatte eine Fläche von fast 25 Quadratkilometern. Die Gravitoren waren hier so angeordnet, daß man bei ihrem Ausfall die gleiche Anziehung erhalten konnte, indem man das Schiff in Rotation um seine Längsachse versetzte. Über dieser ersten Etage gab es Dutzende weitere im Abstand von zwanzig Metern, was die Gesamtfläche verhundertfachte. Ein Pfad wand sich zwischen Silos hindurch und führte zu prachtvollen Olivenhainen. Uralte Ölbäume standen hier, manche mochten mehr als 500 Jahre alt sein. Ich verliebte mich sofort in diese alten Bäume.
6.11 „Was macht ihr mit den vielen Oliven, die hier geerntet werden?“ wollte ich wissen.
„Mangels Bedarf werden die meisten sofort nach der Ernte kompostiert. Da man die Kultur der Bäume dieser Art nicht so ohne weiteres dem Tagesbedarf anpassen kann – es dauert Jahrzehnte, ehe ein frischgepflanzter Baum genug Früchte trägt – leisten wir uns hier gern eine Überproduktion. Gemüse und andere einjährige Pflanzen bauen wir in solchen Mengen an, daß wir immer genügend große Vorräte an guten Samen haben.“
6.12 Ich war noch ganz vertieft in die Betrachtung der herrlich alten Bäume, als das Schiff die baldige Ankunft beim Felsen ankündigte. Es wäre nützlich, den gleich beginnenden Parallelflug von der Brücke aus mitzuverfolgen. Ursav rief ein Radfahrzeug herbei, welches uns schnell zum Magnetschweber führte.
Kapitel 7: Der Felsen
7.1 Die BROTLOSE KUNST schwebte 1000 Meter über dem Felsen. Aus diesem Abstand betrachtet, erschien er planetengroß: wild zerklüftet, kraterübersät, mit Bergen und Tälern. Die Nahortung fand am Grund des größten Kraters hohe Eisenvorkommen. Hier würde sich der Einsatz der Bergwerkmaschinen lohnen. Dutzende Außenschotts öffneten sich und heraus „regnete“ ein Schwarm winziger Punkte, jene angeblich tonnenschweren Bergbaumaschinen, die sich über die Planetenoberfläche ergossen und sich sogleich an die Arbeit machten, das Erz abzubauen und an Ort und Stelle zu verhütten – wie Ursav erklärte. Mit der Unterstützung kleiner Düsen fuhren die Kettenfahrzeuge zu den Kraterwänden, in welche sie sich hineinbohren würden. Ohne die Unterstützung der Düsen würden die hier fast nutzlosen Ketten die Bodenhaftung verlieren, denn auf diesem kleinen Himmelskörper wog jede dieser Maschinen, die auf der Erde mehr als 100 Tonnen auf die Waage bringen würde, keine 800 Kilogramm. Da jedoch nachwievor die riesigen Massen beschleunigt werden mußten, wären die Räder durchgedreht. Ich selbst würde einschließlich Raumanzug hier nur 700 Gramm wiegen, wobei ich mein relativ hohes Gewicht der Eisenhaltigkeit des Bodens verdankte.
7.2 Mich überkam die Lust, mit einem Raumanzug zum Felsen hinunterzuschweben.
„Gibt es einen Raumanzug an Bord, der mir paßt?“ fragte ich Ursav, beziehungsweise das Schiff.
„Selbstverständlich!“ war die Antwort. „Folge mir zum Mannschott. Das ist eine kleine Schleuse, die normalerweise nur von einzelnen Personen benutzt wird.“
7.3 Wir machten uns zu Fuß auf den Weg. Es ging von der kleinen Ersatz-Kommandobrücke durch eine schmale Tür in ein verwirrendes System langer Korridore und automatischer Aufzüge. Unsere Schritte hallten auf stählernem Boden. In unserm Gefolge wie immer der schweigende Botro, der sich wohl immer noch an den Befehl, mir zu folgen, gebunden fühlte.
„Kann Botro mich begleiten und eventuell retten, wenn ich nach dem Verlassen der BROTLOSEN KUNST vom Kurs abkomme?“ – Ich fragte Ursav, weil ich unsicher war, ob ich Botro trauen konnte. Er sah ein wenig verbeult und zerkratzt aus, er hatte augenscheinlich ein paar Jahrhunderte zu viel im Sperrmüll verbracht und entstammte einer fremden Zivilisation. Ursav war meine Bezugsperson, der ich vertraute, seit der Avatar der ERSTEN ERKENNTNIS verschwunden war.
„Das wird nicht nötig sein.“ erwiderte Botro, „Dein Anzug ist mit Steuerdüsen und Restlichtverstärkern ausgestattet und wird deinen mündlichen Befehlen gehorchen. Du brauchst ihm bloß zu sagen, wo du landen willst, oder du befiehlst ihm, deinem Blick zu folgen. Er wird dich dorthin bringen, wohin dein Blick zielt.“
7.4 Wir hatten das Mannschott erreicht. Eine schwere Tür öffnete sich und gab den Blick auf die Schleusenkammer frei. Auf beiden Seiten des Schott hingen Raumanzüge aller möglichen Größen und Farben in regelmäßig angeordneten Nischen in den Wänden. Auch in der Schleusenkammer hingen jede Menge Raumanzüge.
Zielsicher griff Botro nach einem der Anzüge. „Dies ist ein leichter Anzug, der extra für dich hergestellt wurde. Die andern sind schwerere Arbeits- und noch schwerere bewaffnete Kampfanzüge aus veralteter Fertigung. Falls du den Fels nicht in Stücke sprengen willst und keine Lust hast, einen Krieg zu beginnen, empfehle ich diesen hier!“
Offensichtlich verfügte Botro über Humor! Außer seinem primitiven Äußeren – sein Gesicht war zu keiner Mimik fähig – fand ich keine Zeichen von geringerer Intelligenz, als bei Ursav oder gar dem Avatar der ERSTEN ERKENNTNIS.
7.5 Botro stellte den Anzug vor mich auf den Boden. Er blieb stehen, sackte also nicht zusammen, wie ich erwartet hatte. Er setzte sich sogar eigenständig in Bewegung, schritt mit eleganten Bewegungen auf mich zu. Unmittelbar vor mir blieb er stehen, drehte sich um und öffnete sich hinten vom Halsansatz bis herunter zum Gesäß. Ich brauchte nur noch in ihn hineinzusteigen. Sofort schloß sich der Schlitz; ein durchsichtiger Helm stülpte sich über meinen Kopf. Verblüfft schaute ich Botro an. Aus verborgenem Lautsprecher im Kopfbereich tönte es melodisch:
7.6 „Der erste Anzug neuer Fertigung, nachdem das Selbstreparaturmodul die Raumanzugsfabrik umgebaut hat. Die alten Anzüge sind alle wesentlich störanfälliger, unbequemer und komplizierter zu bedienen. Wenn du nichts dagegen hast, werde ich veranlassen, daß die alten Anzüge, die hier herumhängen, in den Abfallkonverter gegeben werden.“
7.7 „Nicht so schnell mit dem Wegwerfen alter Sachen, mein lieber Botro! Ich möchte nicht, daß sich allzuviel verändert in diesem Schiff, ehe ich mich einigermaßen eingewöhnt habe und bewußt alle Modernisierungen mitverfolgen kann. Noch ist mir alles neu und fremd. Allzuviele Eindrücke überfordern meine Sinne und die Verarbeitungskapazität meines Geistes. Ich möchte mich an das Schiff gewöhnen, so, wie es jetzt ist. Und erst dann, wenn ich das Schiff in seinem jetzigen Zustand einigermaßen kenne und die Seele wieder ruhig geworden ist, möchte ich bewußt die Veränderungen des Schiffes mitverfolgen und wenn möglich mitgestalten.“
7.8 Ich – oder sollte ich sagen: wir, der Anzug und ich – schritt in die Schleusenkammer. Botro folge mir. Das Innenschott schloß sich. Zischend wurde die Luft abgepumpt. Dann öffnete sich das Außenschott – zu meiner Überraschung völlig geräuschlos, bis mir einfiel, daß ohne Luft Geräusche nicht übertragen wurden.
7.9 Vor uns in für die natürlichen Sinne unauslotbarer Tiefe der Fels mit seiner öden Kraterlandschaft im milden Dämmerlicht von Andromeda.
„Geh an den Rand der Rampe und stoße dich so kräftig du kannst Richtung Fels ab!“ sprach Botro über die Helmlautsprecher. Ich tat, wie empfohlen, stellte mich an die äußerste Kante der Öffnung des Riesenschiffes, beugte mich nach vorne, bis der Kopf Richtung Fels zeigte, ging in die Hocke und sprang ab, so kräftig es mir möglich war. Meine Absprunggeschwindigkeit wurde stark abgebremst, mir wurde schwindlig; der Magen drohte sich umzudrehen, mir wurde furchtbar übel von der plötzlich empfundenen Schwerelosigkeit. Ich trudelte hilflos um meine eigene Achse, und jedesmal, wenn das Schiff in meinen Blick kam, konnte ich den Erfolg meines Sprunges sehen. Das Tempo wurde zusehends geringer, dann Stillstand, dann kehrte sich der Flug um, und ich landete auf der Außenhaut der riesigen BROTLOSEN KUNST.
7.10 „Ich glaube, wir müssen die Anziehung ein wenig reduzieren!“ meinte Botro. „Ich gab soeben Anweisung an das Schiffshirn.“ Ich hüpfte an der Außenhaut entlang zum günstigsten Ort eines zweiten Absprungversuches. Direkt über meinem Kopf schwebte der Fels. Ich konnte nicht ausmachen, ob er nun wirklich ein 110 km großer Planetoid war oder bloß ein Stein von 10 Metern Größe unmittelbar vor mir.
7.11 Der zweite Absprungversuch war erfolgreich. Mein Tempo verringerte sich zwar schnell, aber nach einigen Sekunden scheinbar völligen Stillstandes wurde dann doch wahrnehmbar, daß ich mich immer schneller zum Felsen hinbewegte. Verwirrend dabei war, dass aus meiner Hinaufbewegung unvermittelt ein Hinab wurde; mein Gehirn hatte sich offenbar auf halbem Wege umorientiert und hatte aus „Oben“ „Unten“ gemacht.
Kapitel 8: Erste Schritte auf fremder Welt
8.1 Ich war aufgeregt wie ein kleines Kind. Kopfüber näherte ich mich der kraterübersäten Oberfläche. „Anzug, hallo Anzug, hörst du mich?“
„Aber ja!“ antwortete der Anzug. „Du möchtest sicher mit den Füßen zuerst landen!“
„Selbstverständlich möchte ich das! Kannst du es arrangieren?“
„Kein Problem. Wozu sonst habe ich Steuerdüsen?“
8.2 Ich bemerkte an einem Fuß einen leichten Druck, welcher den Planetoiden unter mir wegdrehte, sodaß ich tatsächlich mit den Füßen nach unten aufsetzte. Ich ging sofort in die Knie, um möglichst wenig Kraft auf die Oberfläche zu übertragen. Trotzdem federte ich nach der Landung noch einmal 100 Meter hoch, um nach weitem Parabelflug ein zweites mal zu landen.
8.3 Dann stand ich auf dem Felsen! Vor mir eine weite kraterübersäte Ebene mit sanften Hügeln, die sich nicht mehr als ein paar Dutzend Meter über die Ebene erhoben. Ich wartete, bis ich vornüberfiel, und als meine Körperachse einen Winkel von etwa 45 Grad zum Boden erreichte, stieß ich mich leicht ab und machte einen Sprung von vielleicht 50 Metern Höhe und 100 Metern Länge. Ich fühlte mich wie ein Riesenfloh! Mit dieser Sprungtechnik würde es mir leicht fallen, den Felsen zu erforschen. Die nächsten Sprünge wurden flacher und weiter. Ab und zu machte ich einen hohen Orientierungssprung. Wenn ich in einem tiefen Krater landete, war es eine Kleinigkeit, selbst hundert Meter fast senkrechte Wände emporzuhüpfen.
8.4 Anfangs war es ein lustiges Spiel, aber es verlor zu meinem eigenen Erstaunen schnell an Reiz. Wie viel hätte ich früher für ein solches Erlebnis gegeben! Und jetzt, nach ein paar Sprüngen in annähernder Schwerelosigkeit, war ich’s schon beinahe überdrüssig. Botro kam angeflogen. Er bewegte sich nicht wie ich in Parabelsprüngen, sondern benutzte ausschließlich seine Düsen.
„Du solltest mich zum großen Krater begleiten“, sagte Botro. „Im Erzabbaugebiet gibt es mehr zu sehen.“
8.5 Mit Hilfe der Anzugsdüsen waren wir innerhalb weniger Minuten inmitten der Großbaustelle im großen Krater. Die emsige Geschäftigkeit kontrastierte zur „ewigen Stille“ des Weltraums und der anderen Orte dieses Felsens.
Botro führte mich zielstrebig zu einem Höhleneingang der Kraterwand. Ich ahnte, daß er bereits irgend etwas erfahren haben mußte, natürlich über Funk. Wir betraten die geräumige Höhle. Ohne die Unterstützung des Anzugs hätte ich große Probleme gehabt, mich hier vorwärts zu bewegen; ich wäre ständig irgendwo angestoßen uns wäre kaum vorangekommen.
8.6 Endlich durchbrach Botro das Schweigen: „Diese Höhle ist nicht von uns! Es handelt sich aber auch nicht um eine natürliche Höhlung. Die Schürfspuren an den Wänden weisen darauf hin, daß hier schon vor langer Zeit einmal Erz abgebaut wurde.“
8.7 Ich wußte nicht, wie ich diese Information bewerten sollte.
„Wie wahrscheinlich ist denn ein Ereignis dieser Art?“ wollte ich wissen.
„Mit anderen Worten: Wie dicht sind die beiden Galaxien besiedelt? Wie häufig trifft man auf Spuren anderer raumfahrenden Spezies, wenn man so unterwegs ist wie wir?“
„Du wirst es nicht glauben, aber die Galaxien und selbst der scheinbare Leerraum dazwischen sind vollgestopft mit Leben. Ja das gesamte Universum ist voller Leben. Warum? Weil es selbst lebt. Es selbst ist ein Lebewesen!“ antwortete Botro.
8.8 Wir folgten dem breiten Gang in die Tiefe des Felsens. Die Wände wurden schwarz, bestanden schließlich aus purem Eisen. Deutlich war zu sehen, daß sich hier Maschinen kilometerlang und hunderte Meter breit durch das Eisen geschmolzen hatten.
„Was meinst du, Botro, werden wir hier noch etwas Interessantes finden?“
„Nein, meine Ortung besagt, daß diese Höhle vollkommen leer ist. Keine künstlichen Artefakte sind zurückgeblieben.“
„Dann laß und hier verschwinden. Ich glaube, das Schiff ist interessanter als dieser Felsen.“
Das also war mein erster Ausflug in einer fremden Welt – ein etwas enttäuschender Ausflug, zugegeben. Aber was sollte man von einem Felsen im Leerraum zwischen zwei Galaxien mehr erwarten?
Kapitel 9: Zurück im Schiff
9.1 Ursav empfing uns in der Behelfskommandobrücke unmittelbar neben meiner neuen Wohnung. Er saß, mit dem Rücken zum Steuerpult, lässig auf dem Pilotensessel. Grußlos begann er sofort mit dem Wesentlichen.
„Die Fernortung ist instandgesetzt. Es gibt einen einzigen Himmelskörper von Interesse in annehmbarer Entfernung: Eine Sonne mit 26 Planeten und einigen hundert Monden in einer Entfernung von 22 Lichtjahren in Richtung unserer Heimatgalaxis.“
„Wann kann die BROTLOSE KUNST sie erreichen?“ war meine einzige Frage.
„Nun, aufgrund der miserablen Beschleunigung leider erst in fünf Jahren. Wir haben also Zeit, uns das Schiff etwas genauer anzuschauen“, war Ursavs trockener Kommentar.
„Ist das dein Ernst?“ fragte ich entsetzt.
„Ich habe mir unter interstellarer Raumfahrt mit solchen Riesenkisten etwas Anderes vorgestellt!“
„Nun ja, wir haben ja dieses Selbstreparaturmodul. Meine Auskunft bezog sich auf das bestehende Antriebssystem. Wenn du möchtest, beginnt es sofort mit dem Bau eines besseren Antriebes. Wenn alle Ressourcen des Reparatursystems drei Monate an sich selbst angesetzt werden, sodaß es sich vervielfältigt und danach zu je 50% des Systems an die Triebwerksbau delegiert werden, sollte ein neuer Antrieb in sechs Monaten fertig sein und der Flug zum Ziel nur noch ein paar weitere Monate dauern.“
9.2 Ich muß wohl nicht erzählen, daß ich Befehl gab, den Plan sofort in die Tat umzusetzen. Was blieb uns auch anderes übrig? Es befiehlt sich leicht, wenn einem keine Alternativen einfallen.
Ich wollte nun unbedingt dieses Selbstreparatursystem bei der Arbeit sehen. Ursav führte mich in eine große Halle, die, wie Ursav beiläufig erzählte, von Robotern freigeräumt worden war.
9.3 Inmitten des Saales befand sich ein etwa zwei Meter hoher „Ameisenhaufen“, in welchem es von „Ameisen“ unterschiedlichster Größe wimmelte. Nachdem ich nahe genug herangekommen war, entdeckte ich Winzlinge von nur Millimetergröße neben, auf, unter Krabbeltieren von der Größe einer Maus oder gar einer Katze.
„Schau genauer hin!“ empfahl Ursav. Ich kniete mich neben den Haufen und versuchte, mehr Details zu erkennen. Tatsächlich: Es gab noch mehr Größenklassen dieser künstlichen Tiere. Winzigster Staub wanderte über den Boden und wimmelte auf den Körpern der größeren Kollegen wie glitzernder Puderzucker auf einem Kuchen.
9.4 „Die Kleinsten sind für dein bloßes Auge unsichtbar. Ihre Größe beträgt nur wenige Nanometer bis hin zu hundertstel Millimetern. Die kleinsten bestehen aus nur wenigen Millionen Atomen. Sie sind im Schiff inzwischen allgegenwärtig, sammeln Staub von Fußböden und Maschinen, zerlegen Schrott und Abfälle jeder Art und bringen alles zu größeren Exemplaren, die das Material hier abliefern, um es als Rohstoff wiederzuverwenden.
Andere „Nanos“ unterbrechen in defekten elektronischen Schaltkreisen Kriechstrombrücken oder reparieren Atom für Atom durchgebrannte Mikroleitungen in irgendwelchen Steuereinheiten. Wieder andere sind am Bau des Gehirns des Selbstreparatursystems, welches sich unter diesem Haufen befindet, beteiligt. Es gibt keinen Ort in und an diesem Schiff, wo sich keine Nanos aufhalten und bei Bedarf eingesetzt werden. Jedes der größeren Exemplare hat ein eigenes Gehirn, mit dem es – je nach Größe und Aufgabe – einige hundert bis einige Millionen kleinere steuert. Das Zentralhirn überwacht die Gesamtheit des Schiffes und plant dessen Weiterentwicklung. Es steht mit dem Hirn der BROTLOSEN KUNST in ständiger Verbindung. Von ihm erhielt es die Baupläne, die hier, in diesem „Haufen“ studiert und als Planungsgrundlage zur Modernisierung herangezogen werden.“
9.5 „Wo werden die Ameisen produziert? Etwa im Gehirn des Systems?“
„Nicht im Gehirn. Die großen „Ameisen“ fressen einer speziell für sie zusammengestellten Staubmixtur, die in extra für sie konstruierten Mühlen hergestellt wird und produzieren aus ihm in ihrem Innern die kleinen „Ameisen“. Die Kleinen hingegen bilden Klumpen und setzen aus ihrer eigenen Körpersubstanz, welche nach Bedarf umgebaut wird, die großen zusammen. Eine große Ameise stellt sich einen „Kollegen“ als holographisches Bild vor, und die kleinen Nanos setzen sich an die projizierten Örtlichkeiten und bilden die Projektion materiell nach, sodaß am Ende des Prozesses anstelle des Hologramms die echte Ameise steht. Da eine Ameise nicht alles von sich selber weiß, empfängt sie während ihres Nachbildungsprozesses Informationen vom Zentralgehirn.“
„Wird in dieser Halle ausschließlich das Zentralgehirn des Selbstreparatursystems gebaut oder werden hier noch andere Projekte in Angriff genommen?“
„Das Gehirn wird nur einen kleinen Teil des Raums einnehmen. Der meiste Platz wird für den Triebwerksbau benötigt. Das neue Triebwerk wird aus 80 baugleichen Teilen bestehen, die außen an das Schiff angebracht werden. Sie sollen ein Hyperfeld erzeugen, mit dessen Hilfe wir uns im Hyperraum aufhalten können. Bezogen auf das Normaluniversum können wir uns dann mit vielfacher Lichtgeschwindigkeit fortbewegen.“
9.6 „Wie groß wird denn so ein Triebwerksteil?“ wollte ich wissen.
„Hier werden nur die Einzelteile hergestellt. Sie müssen ja durch die Gänge passen. Fertig montiert an der Außenwand wird jeder Gravitationsgenerator 60 Meter lang und einen Durchmesser von etwa 15 Metern aufweisen. Das Schiff wird also um weitere 270000 Kubikmeter größer.“
„Und das alte Triebwerk wird verschrottet?“
„Es wird völlig umgebaut.“
9.7 „Warum bezeichnetest du das Reparatursystem als primitiv? Es vermehrt und erneuert sich doch ständig von selbst. (1.12)
„Das schon. Das Wissen, die Programme des SRS, sind primitiver, als das SRS der ERSTEN ERKENNTNIS. Es kann beliebig quantitativ wachsen, aber kaum qualitativ. Das System könnte keine ERSTE ERKENNTNIS oder ein noch moderneres Schiff reparieren, geschweige denn bauen. Es kann diesen primitiven Kahn wieder flottmachen, mehr noch: ihn besser machen, als er je war. Aber vieles, was der ERSTEN ERKENNTNIS eine Selbstverständlichkeit ist, kann es nicht! Als das SRS noch vom Gehirn der EE gesteuert wurde, konnte es wesentlich mehr leisten, als dieser Ableger, dessen Gehirn weniger komplex ist. „
„Was zum Beispiel kann unser SRS nicht?“
„Ich nannte schon Beispiele. Für dich dürfte wichtig sein, daß es deinen Körpermetabolismus nicht vollständig versteht. Es kann deinen genetischen Code nicht ändern, manche Krankheit nicht heilen. Es kann kein Ultratriebwerk bauen, mit dem du in wenigen Minuten hunderettausende von Lichtjahren zurücklegen könntest. „
9.8 „Heißt das, daß sich diese Nanos in meinem Körper aufhalten können?“
Ursav lächelte mir ins Gesicht: „Das tun sie bereits. Schließlich ist das Schiff daran interessiert, daß es dir gut ergeht. Zehntausende dieser Winzlinge befinden sich in dir. Sie entfernen schädliche Ablagerungen in den Blutgefäßen, entfernen Geschwülste und verstärken schwache Gefäßwände. Auch Strahlungsschäden können weitgehend repariert werden. Der wichtigste Grund für ihr Vorhandensein in deinem Körper ist allerdings der, daß du ohne sie keine außerirdischen lebenstragenden Planeten oder Raumschiffe besuchen könntest, denn dein körpereigenes Immunsystem würde bei Angriffen fremdweltlicher Mikroben versagen. Die Nanos beseitigen sämtliche Mikroben und Gifte, die deinem Körper gefährlich werden könnten.“
9.9 Der Schock traf mich völlig unvorbereitet. Blut stieg mir in den Kopf; ich spürte das Herz pochen. Erst etliche Sekunden später vermochte ich wieder klar zu denken. Ich wußte nicht, ob ich wirklich so bestürzt sein oder mich doch eher freuen sollte. Schließlich geschah die Infiltration dieser Maschinchen zu meinem Besten. Doch mir schwante, daß diese Nähe zur Maschinenwelt auch einen Preis kosten würde. Mir kam der Gedanke, daß ich allmählich mit dem Schiff verschmelzen und so meine Unabhängigkeit verlieren würde.
Aber konnte von Unabhängigkeit überhaupt die Rede sein, selbst wenn die Invasion der Nanos in meinen Körper nicht stattgefunden hätte? Nicht daran zu denken! Mir wurde bewußt, daß ich nicht nur kraft meiner Fähigkeit, kreativ zu sein und Kausalketten beginnen zu können, Herr über die BROTLOSE KUNST, sondern auch ihr Sklave war. Ich aß, was sie mir gab, atmete ihre Luft, sie hielt mich am Leben. Ich sollte nicht so entrüstet sein, das war ich wahrscheinlich bloß aufgrund alteingeprägter unreflektierter Denkgewohnheit. Ich sollte mich an mein neues Leben gewöhnen und dann erst mit klarer Urteilskraft entscheiden, wie ich mit der Tatsache, von Maschinen besiedelt zu sein, umgehen wollte. Meine alten Denkschablonen, die mir das Leben auf der Erde erleichtert hatten, waren hier ungültig. Also mußte ich mich in neuer Umgebung auf Neues einstellen, und ich war dazu bereit.
9.10 „Oh, diese Eröffnung muß ich erst einmal verarbeiten, ehe ich Stellung dazu nehme“, war das Einzige, was ich dazu sagen konnte. Ich brauchte eine Ablenkung – und da fiel mir rechtzeitig wieder ein, was ich schon seit ich hier an Bord war, wissen und sehen wollte:
„Die Beiboote! Wieviele sind an Bord? Wie groß sind sie und in welchem Zustand?“ fragte ich abrupt das Thema wechselnd. Ursav tat gar nicht überrascht:
„Ich glaube, es wird Zeit, daß wir einmal eine Inspektion der Beiboote durchführen! Folge mir.“
Ursav führe mich zu einem dieser Rohrpostwaggons, in dem wir nebeneinander platznahmen. Die Sichthaube schloß sich – und ab ging die Post!
„Außer 180 Rettungskapseln zwischen 10 und 200 Metern Größe, die man jedoch der schwachen Triebwerke wegen kaum als Boote bezeichnen kann, gibt es 30 voll ausgerüstete Kleinraumschiffe. Die kleinsten sind Kugeln von 18 Metern Durchmesser; dann gibt es die 32-, die 74- und die 220-Meter-Klasse. Von letzteren haben wir vier Exemplare, von den 74ern acht, von den 32ern acht und von den 18ern zehn. Das macht zusammen 30 Beiboote. Ihr Zustand ist allerdings beklagenswert, denn das Selbstreparatursystem „SRS“ hat sich bisher weder um die Rettungssysteme, noch um die Beiboote gekümmert.“
Endlich kam der Rohrpostschlitten in einem Hangar zum Stehen. Vor uns stand eine riesige Kugel auf einem Dutzend Teleskopstützen, festgehalten von starken Metallgreifern, die die Kugel von allen Seiten her umklammerten.
„Gewaltig!“ entfuhr es meinem Munde. Fast gleichzeitig bemerkte Ursav eher mit gelangweiltem Unterton: „Das ist das besterhaltenste der kleinen 32-Meter-Boote!“
Kapitel 10: KLEINKUNST
10.1 Es hatte keinen Namen, also nannte ich es in Anlehnung an den Namen des Mutterschiffes >KLEINKUNST<. „Ist sie einsatzbereit?“ wollte ich wissen.
„Dieses Schiff? Ja! Deshalb habe ich dich zu ihm geführt“, antwortete Ursav. Der Einsatzradius ist allerdings sehr beschränkt. Zwar beschleunigt es stärker, als die BROTLOSE KUNST, die auf zwei Planeten im Abstand von zehn Lichtjahren in einer Spanne von elf Monaten landen kann, allerdings müßte es bereits nach drei Monaten wenden, um noch rechtzeitig zum Mutterschiff zurückkehren zu können, ehe ihm der Treibstoff ausginge. Die Energie-, Luft- und Nahrungsvorräte für dich sollten im unbeschleunigten Flug allerdings ein paar Jahre reichen. Die zusätzlich eingelagerte Tiefkühlnahrung dürfte inzwischen nach all den Jahrhunderten ungenießbar geworden sein. Zwar funktioniert die Recyclinganlage einwandfrei, ist aber leider so primitiv, daß eine ausschließliche Ernährung mit der aus ihr gewonnenen Nahrung auf Dauer ungesund wäre.“
„Ein kleiner Probeflug ist aber trotzdem möglich oder? Ich muß an Bord der KLEINKUNST ja nichts essen.“
„Sicher. Wir stehen ja noch über dem Felsen. Der Erzabbau ist noch voll im Gange. Wir könnten den Felsen ein paar mal umkreisen und währenddessen die Systeme der KLEINKUNST ausprobieren.“
10.2 Im Aufzugsschacht des Beibootes herrschte Schwerelosigkeit. Die Spannung, die die Achillessehne beim normalen Stehen aufwies, reichte, um mich beim Betreten der Aufzugsröhre nach „oben“ zu stoßen. Die Eingeweide drückten gegen den Magen wie beim freien Fall; mir wurde übel und schwindlig. Wie lange würde es noch dauern, bis ich mich an die wechselnden Schwerkraftverhältnisse gewöhnt hatte? Etwa in der Mitte der langen Röhre griff ich nach einem Haltebügel und schwang in die Mitteletage hinein, wo sich die Steuerzentrale befinden sollte. Sofort hatte die Schwerkraft mich wieder im Griff. Ich mußte achtgeben, daß ich nicht stürzte.
10.3 Die Steuerzentrale war vom Aufbau her identisch mit den zahlreichen kleinen „Behelfsbrücken“ der BROTLOSEN KUNST (s. 3.10). Ursav kam nach mir herein und setzte sofort sämtliche Maschinen und Bildschirme in Betrieb.
„Alle Systeme im grünen Bereich!“ sagte er. „Wir können loslegen.“ Er setzte sich in den Pilotensitz. Das Außenschott öffnete sich. Wenige Sekunden später schwebte die KLEINKUNST im Weltraum. Ursav drehte das Schiff, sodaß der Felsen auf dem Hauptbildschirm sichtbar wurde: Vor uns der große, in einem dünnen Staubnebel liegende Krater mit Dutzenden winzig erscheinenden Maschinen darinnen. Der Krater wurde immer größer. Ich war mir sicher, daß wir uns auf ihn zubewegten, doch dann verschob sich der Blickwinkel von Draufsicht nach Seitenansicht, bis der Krater hinter dem Horizont verschwand. Also hatten wir uns dem Felsen gar nicht genähert, sondern Ursav hatte eine Zoom-Optik eingesetzt, während das Schiff den Kurs zur Umrundung des Felsens einnahm.
10.3 Von einer Eigenbewegung des Beibootes war nichts zu spüren. Kein Rucken, keine Vibrationen. Auf dem Panoramabildschirm war nichts als die rauhe, kraterübersäte, vom Bordkomputer ockergelb gefärbte Oberfläche des Felsens zu sehen, die langsam von oben nach unten wanderte.
„Ich würde mir gern die anderen Räumlichkeiten der KLEINKUNST ansehen“, sagte ich. Es ermüdete mich, die öden Felslandschaften weiter zu beobachten. Die Steuerzentrale mit dem großen Panoramaschirm nahm etwa ein Fünftel der mittleren Etage ein. Die anderen Räume – alle waren vom ringförmigen Gang am Äquator aus zu betreten – machten einen trostlosen Eindruck, als ob sie hastig leergeräumt worden waren, wobei man in der Eile die letzten Möbelstücke vergessen hatte. In einem Raum waren ein paar große Metallkisten gestapelt, in einem anderen befanden sich einige Feldbetten, ein dritter Raum mußte einmal die Kombüse gewesen sein; es gab dort Einbauschränke mit Lebensmitteldosen und Getränken, einen Kühlschrank, eine Art Mikrowellenherd, eine Bar mit Hockern und leeren Regalen an der Rückwand. Ein vierter Raum war völlig leer: rundum in ödem Grau, an der Decke ein großes leuchtendes Quadrat – die Lampe sozusagen.
10.4 Den größten Platz in der Äquatorebene nahm das Gravitationstriebwerk ein, welches sich in einer riesigen, mehrere Stockwerke einnehmenden Halle im Zentrum des Schiffes befand und über den Zentralbereich des Schiffes hinaus bis zum Verteiler am hinteren Ende der Etage reichte, von wo aus vier armdicke Energieleitungen rechtwinklig zu den beiden Polprojektoren und zwei Äquatorprojektoren rechts und links führten. Dort traten die vier Elementarbausteine der Gravitation aus, welche in einem Punkt vor dem Schiff aufeinandertrafen, miteinander reagierten und eine starke Gravitation erzeugten, die das Schiff samt Insassen nach vorne zog. Hatte das Schiff die Gravitonen erreicht, waren diese bereits auf die Paralleluniversen verteilt, sodaß ein echter Vortrieb gewährleistet war. Der Raum, in dem sich das horizontal liegende röhrenförmige Gravitationstriebwerk befand, war eng, aber rundherum begehbar. Überall an dem blanken, liegenden Zylinder waren Rohre angebracht, die in Decke und Fußboden führten, sowie Dutzende Meßfühler mit bunten Drähten, die in Apparaten verschwanden, welche an der Röhre festgeschweißt waren.
„Im Augenblick fliegen wir ausschließlich mit den Ionen-Steuerdüsen. Das reicht für das geringe Tempo, mit dem wir den Felsen umkreisen, völlig aus“, erklärte Ursav. In der obersten Etage ist eine astronomische Abteilung . Offensichtlich war dies einmal ein Forschungsschiff. Dort wurde der Kurs des Schiffes geplant, die Daten der optischen Fernrohre und der Radar- und Gravitations-Fernortung mit Komputern ausgewertet und Karten hergestellt und zum Teil ausgedruckt. In der Etage darunter waren die Wohnquartiere der Wissenschaftler, Artefaktesammlungen angeflogener Planeten und ein Chemielaboratorium. In der Etage unter uns befinden sich außer den Energiespeichern für das Triebwerk hauptsächlich die Recycling-Anlagen für Luft, Wasser und Nahrung, ganz unten sind Räume für Erkundungsfahrzeuge, Abstell- und Vorratskammern .“
10.5 Ich war einerseits glücklich, ein solches Raumfahrzeug zur Verfügung zu haben, aber die Leere der Räume und der Schmutz in allen Ecken wirkten auf mich deprimierend. Ich fühlte mich plötzlich einsam und hatte kaum noch Lust, mir die anderen Etagen anzuschauen. Ursav mußte das gespürt haben, sonst hätte er nicht mit der Beschreibung der anderen Etagen begonnen, statt mich zu ihnen hinzuführen. Ich war ihm dankbar für diese Aufmerksamkeit.
„Ursav, wieviele andere Roboter befinden sich in der BROTLOSEN KUNST?“
„Eintausendachthundertundzehn meiner Art. Dann gibt es noch viele hundert Automaten, die zur Reinigung der Räume, sowie zur Wartung und Reparatur der Maschinen vorgesehen waren und nun entweder defekt oder arbeitslos sind, weil diese Arbeiten nun vom SRS erledigt werden. Das Gehirn der BROTLOSEN KUNST hat sie auf Bitten des SRS außer Betrieb gesetzt. „
„Gut, dann werden wir einige dieser noch intakten Roboter an die Beiboote delegieren, damit sie dort saubermachen. Und in dieses Boot kommt gleich ein Dutzend, damit hier aufgeräumt, die Wände tapeziert und schönere Fußböden verlegt werden. Leben muß in dieses Schiff, auch wenn es bloß Roboter sind! – Entschuldigung, so wie du dich verhältst, war mein „bloß“ ungerecht. Hat dich meine Äußerung verletzt?“
„Ganz und gar nicht. Mein Ich ist von einigen wenigen Worten nicht verletzbar. Um mich zu verletzen, müßtest du auf mich schießen.“
10.6 Wir kehrten vom Triebwerksraum in die Steuerzentrale zurück. Die erste Umrundung des Felsens war inzwischen abgeschlossen. Wir standen wieder über dem großen Krater, in welchem sich die Bergwerkmaschinen gesammelt hatten und startklar machten. Dieses Schauspiel wollte ich mir nicht entgehen lassen, aber Ursav meinte, es würde noch ein paar Minuten dauern, ehe sie abheben würden.
Also ging ich noch einmal in die Kombüse und öffnete einen Schrank mit Lebensmitteln. „Kann man feststellen, ob sie noch genießbar sind?“ wollte ich wissen. Ursav schnappte sich eine Dose und setzte sie oben auf den „Mikrowellenherd.“ Einige Sekunden später öffnete sich die Herdtür und heraus kam ein Tablett mit appetitlich zubereitetem, aber geruchlosem Menü samt Eßbesteck und einem Glas Wasser. Ursav beugte sich über das Mahl, schnüffelte am Essen, zerdrückte die Knödel mit einer Gabel und hielt diese an die schnuppernde Nase.
„Meine oberflächliche Analyse besagt, daß die Vorräte verdorben sind. Sobald die Roboter an Bord sind, sollten wir veranlassen, daß sie die Dosen öffnen und deren Inhalt zum Konverter bringen, wo sie recycelt werden. Ich gab inzwischen Befehl an die soeben aktivierten Roboter, frische Nahrungsmittel in die Tiefkühlschränke der KLEINKUNST zu bringen, sobald wir an Bord des Mutterschiffs zurückgekehrt sind. „
Wir schlenderten wieder zurück zur Steuerzentrale. Ein Blick aus dem Fenster zeigte, daß der Start der Bergwerkmaschinen immer noch nicht begonnen hatte. Ich nutze die Wartezeit, um Ursav weiter auszufragen:
10.7 „Erzähle mir bitte von der BROTLOSEN KUNST. Was weißt du über sie? Wo wurde sie gebaut und wann? Wie verschlug es sie in diese unfaßbare Leere zwischen den Galaxien?“
„Da solltest du Botro fragen. Alles, was ich sagen kann, ist, daß Botro vor 1124 Jahren den Planeten GOLAT erreichte und den Menschen dort beim Bau neuer Raumschiffe half. Vor 1081 Jahren, nach 43jähriger Bauzeit, wurde die BROTLOSE KUNST in Dienst gestellt. Sie half (nach 151jähriger Reise) bei einer Koloniegründung im Theta-Alpha-System vor 930 Jahren. Über 100 Jahre lang half die BROTLOSE KUNST bei der Errichtung der Kolonie, bis Abtrünnige das Schiff entführten und mit ihm verschwanden. Botro versuche die Entführer zur Umkehr zu bewegen. Erfolglos. Vor 821 Jahren wurde Botro von den Entführern stillgelegt. Der reduzierten Mannschaft der BROTLOSEN KUNST gelang es nicht, alle erforderlichen Wartungstätigkeiten zu bewerkstelligen. Sie bauten Roboter – mich zum Beispiel – um mit deren Hilfe die Systeme des Schiffs am Laufen zu halten. Es konnte jedoch nicht verhindert werden, daß immer mehr irreparable Schäden auftraten. Man hatte nicht gewußt, daß wichtiges Wissen nicht an Bord, sondern aus Sicherheitsgründen, wie sich herausstellte, auf der verratenen Kolonie deponiert war.
Der Rückflug nach Theta Alpha war nicht mehr möglich. Also verließen die Abtrünnigen mit dem größten Beiboot die kaum noch manövrierfähig BROTLOSE KUNST, um ein nahes Sonnensystem anzufliegen. Was aus ihnen geworden ist, ist uns Zurückgebliebenen natürlich unbekannt. Die BROTLOSE KUNST schaltete sich und alle Systeme außer den Gärten und der Borduhr ab und trieb als beinahe totes Wrack durch die Milchstraße. Als sie wieder zum Leben erwachte, fand sie sich an einem Ort viele 100.000 Lichtjahre von den letzten bekannten Koordinaten entfernt wieder. Es gibt keine Aufzeichnungen darüber, wie das Schiff in diesen Leerraum zwischen den Galaxien gekommen war. Ich vermute, die ERSTE ERKENNTNIS hat etwas damit zu tun.“
10.8 Endlich starteten die Bergbaumaschinen. Mit vielen zehntausend Tonnen Eisenerz in ihren Bäuchen kehrten sie – wie an einer Perlenschnur aufgereiht – zum Mutterschiff zurück. Der Eisengehalt des Erzes betrug annähernd 93 %. Der gesamte Kern des Felsens bestand aus schwerem, massivem Eisen, welches kaum noch gereinigt zu werden brauchte . Die Maschinen verschwanden in ihren Hangars. Es gab keinen Grund mehr, an diesem Ort zu bleiben. Auch die KLEINKUNST kehrte in ihren Hangar zurück. Die BROTLOSE KUNST nahm Kurs auf die im Leerraum verlorene Sonne (9.1).
Kapitel 11: Ein neuer Plan
Im Hangar warteten bereits die Roboter, die die KLEINKUNST renovieren sollten. Sie trugen Paletten mit Lebensmitteln herein und stellten diese in der Kombüse ab. Ursav steuerte sie per Funk, sodaß ich nur hin und wieder meine Wünsche zu artikulieren brauchte. Endlich herrschte „Leben“ in der Bude! Ach, was hatte ich Geschäftigkeit um mich herum vermißt! In fast jedem Raum wurde nun gearbeitet. Die ungenießbaren Lebensmittel wurden in die Recyclinganlage entsorgt, kahle Wände wurden gereinigt und tapeziert. Ich brauchte bloß am Hauptbildschirm die schönsten Tapeten auszusuchen; den Rest erledigten fleißige Roboterhände. Schon wenige Stunden später waren die Wände fertig tapeziert, die Böden zierten dicke Teppiche; in den Räumen waren schicke Möbel aufgestellt, die ich mir wie aus einem Katalog auf dem Bildschirm aussuchen konnte. Auch an Pflanzenkübeln unterschiedlicher Größe mangelte es nicht. Ich selbst hatte von den Arbeiten nur den Anfang mitbekommen: erschöpft hatte ich mich auf einem Sofa niedergelassen und war auch sogleich eingeschlafen. Nach dem Aufwachen aus traumlosem Schlaf fand ich die KLEINKUNST zum Schmuckstück verwandelt wieder!
11.2 An fast jeder Wand hing ein großes dreidimensionales Bild, das eine wunderschöne Landschaft zeigte. Die Bilder glichen eher Fenstern, denn sie simulierten, aufeinander abgestimmt, gemeinsam eine einheitliche virtuelle Außenwelt. Je nach Richtung, in die die Bilder, beziehungsweise „simulierten Fenster“ zeigten, war auf ihnen ein anderer Blickwinkel auf dieselbe Landschaft dargestellt. Die „Fenster“ vermochten die Illusion zu erzeugen, wir flögen gar nicht durch ein fast leeres All, sondern wir befänden uns in einem luxuriösen Häuschen im Grünen. Das Wetter war herrlich und helles Sonnenlicht durchflutete die vormals so öden Räume der KLEINKUNST. Ursav führte mir vor, daß man die Fenster sogar einen spaltbreit zum Lüften öffnen konnte. Herein kam ein leichter Zug frischer Luft und das Frühlingsgeräusch trällernder Lerchen! Ich setzte mich auf einen sonnenbeschienenen Sessel und genoß den Blick auf einen frischen Blumenstrauß auf dem polierten Nierentischchen. Ein Roboter kam herein und servierte ein Kännchen Kaffee.
„Vielen Dank, Roboter! – Hast du eigentlich einen Namen?“
„Ich bin das 63. Exemplar der Version 7/214. Du kannst mich 7/214/63 nennen“, antwortete der Blechmann ungerührt.
„Das ist mir zu umständlich!“ kommentierte ich. „Ich nenne dich >Silber< . Ich möchte, daß du der Avatar der KLEINKUNST bist. Wenn also das Gehirn der KLEINKUNST mir etwas sagen möchte, hätte ich es gern, wenn es durch dich spräche. Geht das in Ordnung?“
„Selbstverständlich! Hier spricht das Gehirn der KLEINKUNST. Silber und ich sind jetzt eins. Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit. Möge sie erfolgreich sein!“
„Damit ich dich von den andern baugleichen Robotern unterscheiden kann, bitte ich dich, daß du dir eine passende Bekleidung zulegst, die eines Avatars würdig ist. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, sich anzuziehen. Deiner Phantasie sollen keine Grenzen gesetzt sein.“
11.3 Silber verließ den Raum. Kurze Zeit später kam Ursav aus dem Maschinenraum, setze sich an den Tisch und eröffnete ein Gespräch: „Ich komme mit einem Vorschlag. Die KLEINKUNST könnte wesentlich schneller als die BROTLOSE KUNST fernflugtauglich gemacht werden. Wir könnten das SRS in zwei Teile aufspalten. Der erste Teil verbleibt im Mutterschiff und wächst dort weiter, bis es die Modernisierung effektiv fortsetzen kann, und die andere Hälfte bringt das Beiboot in kürzester Zeit in Schuß. Das Miniatur-SL der BROTLOSEN KUNST, welches benötigt wird, um das Gravitationstriebwerk fernflugtauglich zu machen, könnte in dieses Beiboot eingebaut werden. Nach einigen Umbauten durch das SRS wäre die KLEINKUNST in der Lage, die verlorene Sonne in drei Monaten zu erreichen.“
„Das wäre ja fantastisch!“ rief ich. „Wieso kommst du jetzt erst auf die Idee?“
„Nun, deine Frage lautete, wann die BROTLOSE KUNST diese Sonne erreichen könne. Vom Beiboot war nie die Rede.“ (9.1)
„Oh, bei euch muß man wirklich aufpassen, was man sagt! Ich wollte natürlich wissen, wann ICH diesen Stern erreichen könnte; ich hatte mich wohl unklar formuliert. Aber nun etwas Anderes: Du sprachst eben von einem Miniatur-SL. Was hat es damit auf sich?“
11.4 Ursav lehnte sich in den Sessel zurück. „Nun, damit ist ein winzig kleines Schwarzes Loch gemeint. Unseres hat einen Durchmesser von nur wenigen zehntel Millimetern. Leider können diese Dinger nicht künstlich hergestellt werden, sondern müssen aufwendig gesucht werden. Wenn sehr große Sonnen explodieren, kommt es zuweilen vor, daß nicht nur ein großes SL übrigbleibt, sondern ein Schauer kleiner Schwarzer Löcher entsteht, die wir suchen und einsammeln. Jeder Fund bedeutet einen unabhängigen Fernantrieb mehr!
Die BK hat so ein Schwarzes Loch. Mit dessen Hilfe kann sie vier Grundelemente erzeugen, mit denen wir Gravitation herstellen können. Diese brauchen wir, damit du im Schiff nicht schwerelos in der Gegend herumschwebst, was auf Dauer ungesund wäre, sondern auf den Fußböden herumlaufen kannst, aber wir brauchen sie auch für den Antrieb. Das MSL wird in einer Flasche mit Antigravitation festgehalten und mit einem Partikelstrahl vornehmlich aus flüssigem Eisen ernährt und in schnelle Rotation versetzt. Ist die Rotation schnell genug, dringen innere Struktureigenschaften des SL durch den Ereignishorizont nach außen. Dort können wir die vier Grundelemente der Materie abgreifen und in masselose Gravitation umwandeln oder in Vorratsbehältern aufbewahren. Sämtliche Beiboote werden auf diese Weise mit den Grundstoffen für die Herstellung von Elektrizität und Schwerkraft versorgt. Indem wir die vier Elemente unterschiedlich mischen, können wir aus ihnen an beliebigen Orten Elektrizität, Magnetismus, Gravitation, Antigravitation, Elektronen, Positronen, Protonen, dunkle Materie und Anderes herstellen.“
„Was ist >masselose Gravitation<?“ wollte ich wissen.
11.5 „Das MSL hat, obwohl es so klein ist, genaugenommen die Masse des halben Erdmondes – zu viel, um sie etwa in einem Raumschiff zu transportieren. Es gelang uns, diese Masse so zu modifizieren, so daß sie ihre Eigenschaft der Ruhmasse verliert. Das MSL wird dadurch gewichtlos und kann transportiert werden. Außerdem können wir aus einer bestimmten Mischung der vier Grundelemente vor dem Schiff eine virtuelle Masse projizieren, auf die es dann zustürzt. Das Schiff beschleunigt also, indem es von einem starken Gravitationsfeld angezogen wird. Weite Reisen können nur dann unternommen werden, wenn das Schiff über ein MSL verfügt. Gespeicherte Elementvorräte reichen nur für kleine Expeditionen.
Gravitationstriebwerke haben den Vorteil, daß alle Massen im Schiff gleicherweise beschleunigt werden. Du wirst also beim >Gasgeben< nicht in den Rücksitz gepreßt. Du wirst von selbst stärksten Beschleunigungen nichts merken.
11.6 Wenn wir nun das MSL aus der BROTLOSEN KUNST aus- und in die KLEINKUNST einbauen, und die Projektoren verstärken, sollte diese die Distanz zur verlorenen Sonne recht schnell überwinden können. Bei der BK wären wesentlich langwierigere Umbauten nötig. Wenn du nun mit der KK das Sonnensystem erforschst, muß die BK fast bewegungslos hier zurückbleiben und warten, bis du ein ein eigenes Mini-Schwarzes Loch für sie gefunden hast. Falls du dich mehrere Jahre in der KLEINKUNST aufhalten willst, muß sie in noch anderen Bereichen umgebaut werden. Die Recyclinganlage muß modernisiert werden. Du brauchst Nahrung, Wasser, Kleidung usw. für mehrere Jahre! Da gibt es viel zu tun!“
„Wie lange werden die Umbauten brauchen?“
„Vielleicht zehn Tage. Ich habe das SRS informiert. Bereits in wenigen Minuten wird es hier von >Ameisen< wimmeln. Du solltest dir das Schauspiel nicht entgehen lassen. „
11.7 Wir schwebten durch den schwerelosen Aufzugsschacht nach unten zum Hauptschott, welches bereits weit offen stand. Auch die Tür am hinteren Ende des Hangars war offen. Schon kam sie heran, eine lange Karawane kleiner Fahrzeuge mit Maschinen und Bauteilen, sowie halbmetergroße >Ameisen< der Selbstreparatur, beladen mit kleinen Werkzeugen, Kisten, Schachteln, Stangen, Platten, Schläuchen, Spulen, diversen unbekannten Gegenständen und ihren kleineren Artgenossen. Ursav und ich mußten dem Strom ausweichen, um nicht in diesen Gedrängel mitgezogen zu werden. Ich folgte einer großen Ameise, die in ihren vorderen Klauen ein Schweißgerät trug.
Ich schaute sie mir genauer an. Sie hatte vier Laufbeine und vier Arme mit richtigen fünffingrigen Metallhänden. Geschwind krabbelte das Tier in die Kombüse und machte sich über den von mir so bezeichneten Kühlschrank her, also dieses Aggregat, in dem die verdorbenen Lebensmittel gelagert waren. Der Schweißbrenner begann mit kaum sichtbarer Flamme zu zischen; wie vom Lineal gezogen entstand im Fußboden um diesen Schrank herum ein millimeterbreiter Schnitt. Kurz bevor der Schnitt wieder in seinen Anfangspunkt mündete, kamen ein Dutzend andere große Ameisen, die den Schrank festhielten und nach Vollendung des Schnittes etwas anhoben, um kleinere Kollegen durchzulassen, die im Loch darunter Leitungen und Röhren kappten. Dann wurde der Schrank weggetragen. Die Ameise mit dem Schweißgerät indessen vergrößerte das quadratische Loch zu einem Rechteck. Im offenen Fußboden wurden binnen Sekunden alte Röhren und Kabel entfernt und neue verlegt. Es schien wie ein unglaubliches Durcheinander, aber ich konnte zusehen, wie hier ein technisches Wunderwerk entstand. Vom Zusammenschweißen diverser Metallteile übriggebliebene Wulste wurden von winzigen Ameisen binnen weniger Minuten abgetragen, sodaß danach keinerlei Naht mehr sichtbar war.
11.8 Keine zehn Minuten später kam auf hunderten Insektenbeinen das neue Aggregat anmarschiert und setzte sich paßgenau auf das Loch im Boden. Und wieder wurde geschweißt, wurden Wülste abgenagt und blankes Metall mit Farbe bestrichen. Alles geschah in Windeseile. Ich schaute mich im Schiff um. Überall in der Kombüse, im Maschinenraum und in anderen Räumlichkeiten wurde gearbeitet. Ich fürchtete, daß die eben erst beendete Verschönerung der Räume wieder zunichte gemacht wurde. Wie würden die schönen Teppichböden später wohl aussehen?
Zehn Tage würde hier derart emsig gearbeitet werden? Ich konnte es mir nicht vorstellen. „Die brauchen doch keine zehn Tage!“ sagte ich zu Ursav, der gerade vorbeigekommen war. Ich zeigte mit dem Finger auf die fleißigen Ameisenscharen. „Die sind doch spätestens in zehn Stunden fertig!“
„Täusche dich nicht. Die Feinarbeiten spielen sich im für dich Unsichtbaren ab. Manche Bauteile werden Atom für Atom zusammengesetzt. Es gibt technische Probleme zu lösen. Für den neuen Antrieb mußten fast völlig neue Pläne entwickelt werden.
Kapitel 12: Die letzten Tage in der BROTLOSEN KUNST
Die verbleibende Zeit bis zur Fertigstellung wollte ich in der BROTLOSEN KUNST verbringen. Mich plagte ein schlechtes Gewissen, denn aufgrund meiner Entscheidung würde die BK quasi antriebslos im Leerraum zurückgelassen werden. So viel Hoffnung waren mit ihr verbunden, so viele Geheimnisse des Schiffes würden verborgen bleiben. Ich hatte noch keine 1 % des Schiffes gesehen und hatte es bereits aufgegeben, abgewiesen, ihm meine kalte Schulter gezeigt.
Nein! Der Entschluß stand fest! Entweder würde ich versuchen, ein neues Mini-SL für die BK zu finden, wozu ich einen Ort in der Nähe eines großen Schwarzen Lochs aufsuchen müßte oder ich würde nach der Erkundung des Verlorenen Sonnensystems wieder zur BROTLOSEN KUNST zurückkehren.
Ich verließ die KLEINKUNST und begab mich zu den Roboterfabriken der BK. Während der Fahrt mit der „Rohrpost“ rief ich per Telekom Botro, er möge sich bitte dort mit mir treffen.
12.2 Wir kamen fast zur selben Zeit dort an und betraten eine riesige Halle, die vollgestopft war mit Maschinen und Förderbändern, auf denen Teile von mehr oder weniger humanoiden Robotern lagen: Köpfe, Arme, Beine, Rümpfe, aber auch fast fertige Körper. Außerdem lagen auf den Förderbändern Teile anderer Maschinen oder Roboter, die ich keinem größeren System zuordnen konnte . Alles lag durcheinander. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß hier fließbandmäßig gearbeitet wurde. Kein Laut war zu hören. Alles lag in gespenstischer Friedhofsruhe still. Botro mußte meine Gedanken erraten haben:
„Hier wurde lange nichts mehr hergestellt!“ sagte er. Er nahm wahllos einige herumliegende metallene Gliedmaßen in die Hand und besah sie genauer. „Offensichtlich hatte sich die Besatzung oder die aktiven Roboter selbst einige Jahre lang der auf den Bändern liegenden Ersatzteile bedient und hat die defekten Teile an anderen Stellen abgelegt. Anders ist nicht zu erklären, daß Unbenutztes und Defektes nebeneinanderliegen.“
12.3 Er legte die Teile wieder auf das Förderband zurück. An der hinteren Wand waren bis zur Decke metallene Regale aufgestellt, die bis zum letzten Platz mit Robotern aufgefüllt waren. Sie lagen in langen Reihen neben- und übereinander in ihren Eisenbetten. Da ich nun den Vergleich vor Augen hatte, konnte ich verschiedene Modelle der Humanoiden unterscheiden: Sie variierten in Größe, in den Proportionen zwischen Rumpf und Gliedmaßen, sowie in der Feinheit der Verarbeitung.
Es gab auch völlig andersartige Roboter: kugel- und -diskusförmige mit silberglänzenden Teleskopbeinen, tonnenförmige aller möglichen Größen mit Schubladen im Rumpf und einem Dutzend Greifarmen. Mir hatten es jedoch die humanoiden angetan. Mein Gefühl der Verlorenheit in den Weiten des Weltalls verlangte nach Gesellschaft. Ich suchte mir den ersten im Regal in Kopfhöhe aus.
12.4 „Wie kann ich ihn aktivieren?“ fragte ich Botro. Er zeigte mir einen gut versteckten Schalter am Hinterkopf, den ich drückte. Sofort begannen sich die Arme des Roboters zu bewegen. Elegant schob er sich aus dem Regal heraus. Als der Körper nach unten zu stürzen drohte, packte ich ihn an den Schultern, damit er nicht auf den harten Boden plumpste und sich verbeulte. Endlich stand er vor mir. Er war deutlich kleiner und zierlicher als Botro oder Ursav, vielleicht einmeterzwanzig groß, grau und mit großen schwarzen Augen.
„Ich glaube, diese Kleinen sind für das Beiboot besser geeignet. Was meinst du?“
Botro erwiderte: „Ich würde eine gemischte Besatzung aufstellen. Die Größeren sind waffentauglicher, als die Kleinen. Das könnte einmal wichtig werden, zumal wir fremde Planeten erforschen wollen, die sich als gefährlich erweisen könnten. Für den Innendienst sind natürlich die Kleinen besser geeignet.“
12.5 „Dein Name sei >Arnu<„, sagte ich zum „Neuen“, indem ich ihm in die tiefen schwarzen Augen schaute. Mir fiel auf, daß er nie völlig still stand wie die anderen, die ich bisher gesehen hatte. Beine, Rumpf, Arme und Kopf führten ständig leichte schwankende, schaukelnde Bewegungen aus, als würde man ihn im Wasserspiegel eines leicht welligen Sees betrachten. Diese Bewegungen hatten auf mich eine hypnotische Wirkung; sie irritierten meine Sinne auf seltsame Weise, besonders den Gleichgewichtssinn. Auch meine Augen fühlten sich müde und die Kopfhaut kribbelte. Ich mußte mehr Willenskraft als gewöhnlich aufbieten, um mich vom Anblick der Gestalt zu lösen. Ich schilderte Botro meine Beobachtung, wollte von ihm wissen, was es damit auf sich habe.
„Das liegt in der mangelnden Feinmotorik Arnus begründet. Du hast bei deiner Wahl offensichtlich ein defektes Exemplar erwischt. Ich schlage vor, ihn gegen ein anderes auszutauschen.“
„Nein, nein!“ erwiderte ich, während ich mich wie besoffen fühlte. „Aufgrund seines Defektes ist er einzigartig. Arnu ist etwas Besonderes. Er hat mich neugierig gemacht. Ich will herausfinden, warum er so eigenartig auf mich wirkt. Begleite uns, Arnu.“
12.6 Zu Dritt setzen wir nun unsere Erkundungsreise fort. In einer riesigen Halle entdeckten wir schließlich die vielen tausend Tonnen von Eisenbrocken, die kürzlich auf dem Felsen abgebaut worden waren. In den dämmrigen Hallen verlor sich das Licht der Deckenlampen.
Wir folgten einem anderen langen Gang. Nach halbstündigem Fußmarsch öffnete sich eine große Tür. Vor uns ein riesiges Treppenhaus, ein Atrium, in dem zehn Etagen mit Geländern zum Innenhof hin zu erkennen waren. Wir hatten zweifellos den Wohnbereich der ehemaligen vieltausendköpfigen Besatzung erreicht.
12.7 Statt der Treppen hätten wir auch einen der vielen Aufzüge benutzen können. Aber heute war Fußmarsch angesagt. Wir stiegen eine Etage tiefer und bogen dann in einen beliebigen Gang ein. Hier waren Teppichböden verlegt – wohl eine Notwendigkeit in Wohnbereichen, nicht nur der Geräuschdämpfung wegen. Sicher hatten hier vor langer Zeit auch Kinder gespielt und getobt.
Hier gab es alles, was das Herz begehrte: Wir entdeckten Restaurants, Kinos, Theater, Geschäfte, große und kleine Versammlungsplätze, Krankenhäuser, Büros, Privatwohnungen in Hülle und Fülle. Manches stand völlig leer, manches war zertrümmert, manches wirkte, als seinen die Bewohner gerade eben erst verschwunden. Ich entdeckte eine Wohnung, in der noch ein Gedeck auf einem sauberen Tisch stand; auf dem Sofa lag ein zerknittertes Kissen. Man konnte sehen, daß jemand auf ihm gesessen hatte! Im Wohnzimmerschrank standen sogar richtige Bücher! Mein Herz begann wild zu pochen! Ich zog eines der Bücher aus dem Schrankregal heraus und öffnete es – in der sehnsüchtigen Hoffnung, es möge sich um eine mir bekannte Schrift handeln.
Leider waren mir die Schriftzeichen völlig unbekannt. „Kann man das übersetzen, Botro?“
„Selbstverständlich. Wie willst du es haben? Als Buch wie dieses oder als Text in einem Speichermodul?“
12.8 „Nun, ich möchte mir in der KLEINKUNST eine Bibliothek anlegen. Wenn es möglich ist, möchte ich dort eine Maschine installiert haben, die Bücher wie dieses herstellen kann und deren papiernen Seiten die Übersetzungen in meine Sprache enthalten. Ich möchte, daß im gesamten Schiff nach philosophischen und erzählenden Texten in Komputerspeichern und materiellen Büchern gesucht wird. Diese Texte sollen im Speicher des Gehirns der KLEINKUNST abgespeichert übersetzt werden, sodaß ich sie mir in einem E-Buch anschauen und bei Wunsch als Papier-Buch drucken lassen kann.“
„Ich habe soeben veranlaßt, daß 112 intakte Roboter aktiviert wurden, die nun die Wohnanlagen nach Büchern absuchen werden. Die in Komputern gespeicherten Texte werden bereits in die KLEINKUNST transferiert. „
Wie ein Besessener durchstöberte ich eine fremde Wohnung nach der andern auf der Suche nach Brauchbarem für meine lange Reise. Ich orderte weitere Roboter, die alles abtransportieren sollten, was mir gefiel. Mein nun schon Stunden dauerndes Hamsterleben machte mich müde und hungrig. Als ich in einer der komfortableren Wohnungen ein hübsches Schlafzimmer fand, legte ich mich ins fremde Bett und bat Botro, dafür zu sorgen, daß mir eine Mahlzeit gebracht wurde.
Fortsetzung: (X)
5.7.05: Kap. 13.1 und 13.2.geschrieben
6.7.05: Kap. 9.7. und 9.8 umgeschrieben, Kap. 13 fertiggestellt
7.7.05: Kap. 5.12 geschrieben., Kap. 10.4 geändert (habe die KK von 18 auf 32 m vergrößert)
30.11.05:Kap. 15: 25 Zeilen
1.12.: 12 Zeilen.
15.8.06: Kap. 6.9 erweitert (Kap. 1 – 6 geringfügig verbessert)
16.8.06: restliche Kapitel dieser Seite verbessert.
26.+27.9.09: einige Korrekturen und Erweiterungen eingefügt.