Hans-Joachim Heyer

Noch einmal Willensfreiheit

Information Philosophie: Karl Zilles: Hirnforschung widerlegt nicht Freiheit – Libet-Experiment mißt keine Willensentscheidung http://www.information-philosophie.de/geistgehirn.html

Der Essay kommt meiner Position zwar etwas näher, als alles Vergangene, aber den m.E. wichtigsten Punkt übergeht er geflissentlich, nämlich, daß Bewußtsein und Willensfreiheit grundsätzlich nicht mit der naturwissenschaftlichen Methodik erforscht werden können. Es gibt keine Möglichkeit, Willen und Bewußtsein als Mechanismus zu beschreiben.

Zilles schreibt:

Die aktuelle Diskussion in den Medien über Ergebnisse der Hirnforschung und ihre mögliche Bedeutung für das Konzept des freien Willens scheint einen fundamentalen Gegensatz zwischen Philosophie und Neurowissenschaft zu belegen. Dies entspricht aber meiner Meinung nach nicht der tatsächlichen wissenschaftlichen Befundlage, denn jede der beiden Wissenschaftsdisziplinen führt schon intern eine kontroverse Diskussion, ohne daß der philosophische oder der neurowissenschaftliche Standpunkt erkennbar wäre.

Hier macht Zilles den entscheidenden Fehler. Er bezeichnet und behandelt die Philosophie als eine Wissenschaftsdisziplin! Die echte Philosophie ist definitiv keine Wissenschaftsdisziplin, denn sie ist nicht der naturwissenschaftlichen Methodik untergeordnet. Dieser Fehler, der auch von allen anderen führenden Bewußtseinsforschern gemacht wird, zementiert den Führungsanspruch – mehr noch: den Alleinvertretungsanspruch – der Wissenschaft gegenüber einer „Philosophie“ als Welterklärer, die gar nicht mehr verstanden wird. Zilles‘ & Co. philosophische Blindheit verhindert das Erkennen des Modellcharakters der Wissenschaft und das Begreifen der Tatsache, daß Modelle nicht von selbst entstehen, sondern von bewußten, wollenden, freien Wesen konstruiert werden. Materie ist eine Konstruktion von etwas Immateriellem – von uns als Geist-Seelen.

Diese Tatsache wird weder von den Naturwissenschaften erkannt, noch von der „modernen Philosophie“, die sich den Naturwissenschaften untergeordnet und damit ihrer Existenz beraubt hat. Zilles‘ Essay antizipiert diese kastrierte Philosophie; Zilles geht in seiner Argumentation nicht über den methodischen Rahmen der Naturwissenschaften hinaus und kann folglich weder Willensfreiheit, noch Bewußtsein finden oder gar erklären. Er kann nur ein fehlerhaftes Detail des Libetexperiments nachweisen, nicht aber die Grundsatzfragen beantworten.

Er schreibt weiter:

Insbesondere die Ergebnisse der Libet-Experimente haben einige Neurowissenschaftler veranlaßt, diese als Beleg dafür anzusehen, daß das Konzept einer freien Willensentscheidung eine Illusion ist und alle Handlungsentscheidungen streng determiniert ablaufen. Die philosophischen und strafrechtlichen Aspekte werden von anderen Diskussionsteilnehmern erörtert werden, ich möchte vor allem auf die neurowissenschaftlichen Aspekte und die Aussagekraft der Libet-Experimente eingehen.

Vom Standpunkt der Neurowissenschaft aus ist die Feststellung trivial, das Bewußtsein sowie alle kognitiven Leistungen und das gesamte Verhalten seien von örtlich und zeitlich spezifischen Hirnaktivitäten abhängig. Was aber kann die Neurowissenschaft in Bezug auf komplexe kognitive Leistungen und Willensentscheidungen wirklich nachweisen?

Die Einführung der modernen bildgebenden Verfahren ermöglicht es, die Mechanismen kognitiver Leistungen und emotionaler Reaktionen einschließlich der das Verhalten bestimmenden Entscheidungsprozesse in Form örtlich und zeitlich höchst spezifischer Hirnaktivitäten sichtbar zu machen und ihre Dynamik zu analysieren. Die Analyse von Mechanismen der Perzeption, Kognition und des Verhaltens ist von großer Bedeutung für das Verständnis krankheitsbedingter Dysfunktion und für die Entwicklung neuer Therapien. Die konkreten z.B. Gedächtnisinhalte spielen dabei nur hinsichtlich ihrer kategorialen Aspekte eine Rolle. Die modernen Verfahren der Hirnforschung haben zu spektakulären Erfolgen geführt, weil sie für das Wie kognitiver Mechanismen entwickelt wurden und nicht für z.B. konkrete Inhalte von Gedanken. Wir können z.B. vorhersagen, wie Gedächtnis mit Hirnaktivität korreliert und die normale oder gestörte Funktionsweise der beteiligten neuralen Mechanismen (auch für das einzelne Individuum) prognostizieren, wir können aber nicht die konkreten Gedächtnisinhalte sichtbar machen. Zwischen Mechanismen und Inhalten muß daher streng unterschieden werden.

Wir können somit auch vorhersagen, welche Hirnmechanismen aktiviert werden, um bestimmte Aufgaben durchführen zu können oder in Konfliktsituationen zu entscheiden, wir können aber gegenwärtig nicht vorhersagen, welche konkreten Inhalte die Entscheidungen beeinflußt haben. Die Frage, ob dies in Zukunft möglich sei, kann gegenwärtig seriös von einem Neurowissenschaftler nicht beantwortet werden und ist daher für die aktuelle Situation irrelevant.

Das Libet-Experiment ist nicht geeignet, um eine Entscheidungssituation mit Relevanz für die Frage der freien Willensentscheidung modellhaft nachzubilden, da der Proband bei diesem Experiment instruiert war, auf jeden Fall seinen Finger oder seine Hand – wenn auch zu einem frei wählbaren Zeitpunkt – zu bewegen. Es geht also beim Libet-Experiment nicht darum, zu entscheiden, ob eine Handlung durchgeführt wird oder nicht, sondern nur darum, zu welchem Zeitpunkt sie durchgeführt wird.

Die Handlung im Libet-Experiment ist ethisch und emotional irrelevant, Handlungen auf der Basis von z.B. strafrechtlich relevanten Willensentscheidungen sind dagegen ethisch und emotional bedeutend. Dies bedeutet auch, daß beim Libet-Experiment möglicherweise andere Hirnmechanismen aktiviert werden als bei einer emotional relevanten Entscheidung. Aktuelle Forschungsergebnisse unterstützen diese Kritik.

Hier suggeriert Zilles, als gebe Entscheidungen unterschiedlicher Qualität. Libet habe ausschließlich die geringwertigen Entscheidungen untersucht, nicht jedoch die hochwertigen strafrechtlich relevanten, für die andere Hirnbereiche zuständig seien. Ich halte das für ein Ablenkungsmanöver, ein Ausweichen vor der eigentlichen Grundsatzfrage, wie Willensfreiheit überhaupt meßbar gemacht werden könnte.

Wesentlicher wäre eine Untersuchung über die grundsätzliche Möglichkeit, überhaupt Willenfreiheit modellhaft zu beschreiben. Ich zB bestreite die Möglichkeit.

Wie determiniert der freie Wille wegen der zugrunde liegenden determinierten Hirnmechanismen ist, weiß gegenwärtig kein Neurowissenschaftler. Die unvorstellbare Komplexität des menschlichen Gehirns läßt auch keine seriöse Extrapolation der sehr einfachen bisher untersuchten Entscheidungsmodelle auf komplexe Entscheidungssituationen zu, da wir nur allgemeine Mechanismen, aber z.B. nicht die von der individuellen Lebensgeschichte des Subjekts abhängigen konkreten Vorstellungen von ethischen Normen neurowissenschaftlich untersuchen können.

Zilles verwischt die grundlegende Erkenntnis, daß es keinen determinierten freien Willen geben kann. Die berechtigte Annahme einer sehr hohen Komplexität des Gehirns beantwortet nicht die Frage, sondern trägt zum Vorbeischummeln an der eigentlichen Problemlage bei.

Besonders wichtig für die kritische Interpretation des Libet-Experiments erscheint mir die Tatsache, daß in diesem Experiment gar nicht die freie oder nicht freie Willensentscheidung in ihrer zeitlichen Relation zum Bereitschaftspotential bestimmt wurde, sondern das Bewußtwerden der Willensentscheidung. Willentliche Entscheidung und Bewußtwerden einer willentlichen Entscheidung sind aber zwei Vorgänge, die a priori verschiedene neurale Mechanismen benötigen. Dies wird bei der Interpretation der Libet-Experimente fast immer nicht beachtet. Nicht die Entscheidung des Subjekts, sondern das Bewußtwerden der Entscheidung im handelnden Subjekt wurde von Libet gemessen. Der Zeitpunkt der Bewußtwerdung einer Verhaltensweise (hier einer Entscheidung zur Fingerbewegung) wurde also fälschlicherweise mit dem Zeitpunkt der Entscheidung gleich gesetzt. Dies ist eine begriffliche Ungenauigkeit und ein konzeptueller Fehler, da die Bewußtwerdung nie der Entscheidung vorausgehen kann, sondern ihr wegen der komplexen synaptischen Mechanismen der Bewußtwerdung und dem damit notwendigerweise verbundenen Zeitaufwand immer nur folgen kann. Das heißt die Entscheidung findet vor ihrer Bewußtwerdung statt und daher früher als im Libet-Experiment feststellbar.

Es geht um die Entscheidung des Subjekts! Wo wird sie getroffen? Wo sollte man sie und das Subjekt suchen? Zilles sagt nichts darüber, denn dann müßte er Farbe bekennen, ob er sich dem Alleinvertretungsanspruch der Naturwissenschaft (dem Materialismus) unterwirft oder darüberhinaus zu denken wagt.

Ist eine unbewußte Willensentscheidung eine Willensentscheidung? Kann es eine freie Willensentscheidung geben, die dann später erst – in einem determinierten Prozeß, bewußt wird? Handelt es sich dann immer noch um eine freie Entscheidung?

Der eventuelle Einwand, eine freie Entscheidung müsse immer auch eine bewußte Entscheidung sein, kann so nicht akzeptiert werden. Im Gegenteil: Eine Entscheidung wird auf Grund der beteiligten neuronalen Mechanismen immer erst post hoc bewußt. Damit würde die Definition der freien Entscheidung als einer ausnahmslos immer bewußt gewordenen Entscheidung zu einem logischen Zirkelschluß führen, denn so wäre jede diesen Kriterien entsprechende Entscheidung immer ein der Handlung nachfolgendes Phänomen.

Warum glauben einige Neurowissenschaftler zu wissen, daß das Bereitschaftspotential, das – wie Libet gezeigt hat – dem Bewußtwerden der Entscheidung zeitlich vorausgeht, nur ein simpler motorischer Befehl an hierarchisch untergeordnete motorische Stationen ist, und nicht auch gleichzeitig das meßbare Phänomen einer kognitiven Leistung, die eine willentliche Entscheidung des Subjekts repräsentiert? Neueste Ergebnisse der Hirnforschung zeigen, daß es neben rein motorischen, von kognitiven Leistungen ausgenommenen Nervenzellen der frontalen Hirnrinde, in der das Bereitschaftspotential seine Quelle hat, auch zahlreiche Nervenzellen existieren, die sowohl bei motorischen als auch kognitiven Leistungen aktiv sind. Dies haben die Mirror-Neuron-Experimente der Gruppe um Giacomo Rizzolatti und anderen gezeigt. Es ist also durchaus denkbar, daß das Bereitschaftspotential mehr repräsentiert als rein motorische Steuerung.

Schlußbemerkung
Die unvorstellbare Komplexität des Gehirns läßt Extrapolationen, die aus Befunden aus bewußt reduktionistisch gestalteten Experimenten abgeleitet werden, auf komplexe natürliche Situationen und Hirnmechanismen nicht zu, denn wir verstehen gegenwärtig noch nicht die Kodierungsprinzipien des Organs Gehirn auf der komplexen Systemebene.

Gegenwärtig versuchen wir immer noch biologischen Hirnmechanismen, die auf der Ebene der Spezies Homo sapiens durch die Evolution und auf der Ebene des Individuums durch Genom und persönliche Lebensgeschichte gestaltet wurden, mit von der menschlichen Kultur geprägten Begriffen metaphorisch zu beschreiben. Nur ansatzweise sind durch beeindruckende Fortschritte der molekularen Hirnforschung der eigentümliche Wortschatz und durch die systemische Hirnforschung mit neurophysiologischen und bildgebenden Verfahren die grammatikalischen Regeln des neuronalen Codes verständlich geworden. Die Semantik dieses Codes auf der Ebene komplexer Systeme haben wir aber noch nicht verstanden. Die sogenannte neurowissenschaftliche Erklärung kulturell geprägter Begriffe wie Willensfreiheit und Verantwortlichkeit ist medienwirksam, aber nicht unbedingt neurowissenschaftlich. Aufklärung lebt von wissenschaftlicher Kritik – nicht von Mythen.

Text eines Vortrags bei einer Tagung des Wissenschaftszentrums NRW am 17.11.2004

Zilles outet sich als Monistischer Materialist und damit als Naiver Realist. Er sucht den Geist im materiellen Gehirn, statt zu erkennen, daß das materielle Gehirn ein Bild im Geist ist. (siehe unten – Essay über Gerhard Roth): Die materielle Welt befindet sich in unserer imateriellen Sehrinde unseres imateriellen Gehirns (das ich Seele nenne).

Mehr über Gerhard Roth in „Gehirn.html„. Siehe auch „Libet.html“ (Ausführliches zum Libet-Experiment), „Willensfreiheit.html„, „Bieri.html„, „Qualia.html„, „Metzinger.html„, „Metzingervortrag.html“ „Werkstatt5.html„, wo ich das Bieri-Trilemma auflöste. „Willensfreiheit2.html“ neu: „Zilles“ (noch einmal Willensfreiheit)

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