Hans-Joachim Heyer

Politische Kultur

1. Einleitung
2. Begriffsbestimmung
2.1 empirisch deskriptive Dimension der Politischen Kultur
2.2 normative Dimension der Politischen Kultur
3. Politische Bühnen
3.1 Die öffentliche Bühne
3.2 Die Bühne der politischen Elite
4. Erschaffung eines Geschichtsbildes
5. Vom Mythos zur Methode
6. Psychologie der Masse
7. Wurzeln der Politischen Kultur
8. Das Primat der Ökonomie
9. Schluß
Literaturverzeichnis


1. Einleitung

Aus der untenstehenden Begriffsbestimmung läßt sich die Aufgabenstellung für diese Hausarbeit ableiten. Wie Wolfgang Rudzio in seinem Werk „Das politische System der Bundesrepublik Deutschland“ 1 diese Aufgabe gelöst hat, erschien mir äußerst unbefriedigend; wesentliche Elemente dessen, was meiner Ansicht nach unbedingt zum Thema dazugehört, suchte ich dort vergebens. Ergo suche ich einen eigenen Ansatz, das Thema in den Griff zu bekommen und werde  von ihm aus Rudzios Darstellung unter die Lupe nehmen.

Als bestimmend für das Thema ‘Politische Kultur’  erachte ich eine Differenzierung zwischen politischer Wirklichkeit und Inszenierung. Aus diesem  Grund beginne ich mit der Darstellung der Bühneninszenierung (um was es geht). Dann beschreibe ich, wie die Inszenierung herbeigeführt wird, und am Schluß wende ich mich der Frage zu, warum die Inszenierung stattfindet.

2. Begriffsbestimmung

„In der Politikwissenschaft umfaßt  ‘politische Kultur’ wertneutral

– zunächst kognitive, affektive und wertende Einstellungen gegenüber dem politischen System und Politischen Rollen, d.h. die psychologische Dimension eines solchen Systems;

– dazu auch typische Verhaltensmuster in der Politik, reichend von Partizipationsmustern bis zur Elitenrekrutierung und den ‘Modalitäten der politischen Regelung gesellschaftlicher Konflikte’, d.h. nicht normativ fixierte, doch ein politisches System charakterisierende Verhaltensweisen.“ 2

3. Politische Bühnen

Diese ‘psychologische Dimension’ und jene ‘typischen Verhaltensmuster’ können aus zwei völlig verschiedenen Positionen heraus beschrieben und erklärt werden und zwar einmal aus der Position der Bevölkerung als Masse und einmal aus der der Führungselite. Regierte und Regierende sehen sich dabei selbst in völlig verschiedenen politischen Landschaften weilend, in denen sie ihre jeweiligen Erfahrungen machen und ihre politischen Einstellungen gewinnen.

Im Wissen, daß sich das Volk kaum mehr, als ein vages Bild von der politischen Welt machen kann, gibt es für die Führungselite nur zwei Möglichkeiten: entweder dem Volk gar keinen Einblick in ihre Tätigkeit zu geben oder einen simplifizierten, also verfälschten. Im ersten Fall läge eine ‘unsichtbare Regierung’ vor; im zweiten das, was ich Bühnen-Inszenierung nennen möchte. Rudzio schreibt dazu:

„Die wahlwerbenden Parteien müssen daher um Aufmerksamkeit ringen. Sie tun dies, indem sie die Komplexität der Politik auf knappe Wahlslogans (…) reduzieren. (…) Vor allem aber sollen Emotionalisierungen  und eine „wertende Sprache“, generell Unterhaltungselemente bis hin zur Darstellung von Politik  als dramatischem Theater, den Zugang zum Wähler verschaffen.“ 3 


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Ich möchte in diesem Referat den Nachweis erbringen, daß das politische System der Bundesrepublik Deutschland, die sog. „Parlamentarische Demokratie“, eine Inszenierung ist, die in den Köpfen der Bevölkerung eine bestimmte politische Einstellung bewirkt. Ich halte nicht nur das bloße Erforschen der pol. Einstellung als relevant für pol. Kulturforschung, sondern auch die Erforschung der Einflußnahme politischer Eliten auf jene Einstellungen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß auch die politische Eliten nicht frei von „kognitiver, affektiver und wertender Einstellung“ 1 sind. Auch sie sind Opfer von Inszenierungen: Hinter den Kulissen der Bühne „Demokratie“ steht also nicht etwa das Monster der Wahrheit, sondern  eine zweite Bühne, die ebenfalls erforscht sein will.

Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk hält das Verbergen der ‘wahren Absichten’ der Elite für nötig. Er schrieb: „Moderner Elitismus muß(te) sich demokratisch verschlüsseln“. 2 Warum? – Weil man das Verhalten der Menschen als Menge von Individuen und als psychologische Masse berücksichtigen mußte. Um das Chaos zu verhindern, mußte man Strukturen schaffen, die zweierlei Bedingungen erfüllten: Erstens mußten die vielen Wünsche, Meinungen und Einstellungen kanalisiert und in ihren Wirkungen neutralisiert werden, und zwar so, daß nur Hauptströmungen die Filter passieren konnten. Zweitens mußten Kanäle geschaffen werden, die diese Hauptströme zu lenken vermochten.3 Um diese Ziele zu erreichen, wurde das in der Weimarer Republik noch gebräuchliche Plebiszit für das Grundgesetz nicht übernommen, denn, wie Theodor Heuß sagte: „Plebiszite seien in der großräumigen Demokratie die Prämie für jeden Demagogen“. 4

Vielmehr installierte man eine Reihe von Parteien. Diese erfüllten ihre oben genannten Aufgaben der Erfassung, Markierung und Steuerung von Volkes Wille.  Rudzio drückt dies – meiner Auffassung nach etwas verharmlosend – so aus:

„Die Aggregierung von Interessen, d.h. die Bündelung und Umformung spezieller Interessen durch größere Interessenorganisationen, soll zwar deren Durchsetzungsfähigkeit stärken, bedeutet aber für das politische System eine Komplexitätsreduktion, welche die Interessen überschaubar und damit verarbeitbar macht; verbunden hiermit ist auch eine Entlastung von Einzelkonflikten.“ 5

 Wichtig in diesem Szenario sind ständige Volksumfragen.  Hier wird das Volk abgefragt, ob es seine Lektion gelernt hat (n. Carlo Schmid).

Die von Rudzio als Einwand gegen die Oligarchiethese vorgetragenen Argumente – „innerparteiliche Konflikte“, „Kampfabstimmungen“, „Machtblöcke, durch die übermächtige Parteiführungen unmöglich werden“ und das „Prinzip der antizipierten Reaktion“ 6 lassen


3

sich auch in dem Sinne interpretieren, daß hier >>politischer Wille von unten<< neutralisiert wird. Der dadurch entstehende Frust der Durchschnittsdeligierten wird auf Seite 172 recht anschaulich beschrieben.

Ein weiterer möglicher Einwand – die Kritik der Wähler zB an den Bundestagsdebatten – zeigt keinesfalls das Durchschauen der kräfteneutralisierenden Bühneninszenierung auf. Statt den Rednern wirkliche Politik verschleiernde Ablenkungsmanöver vorzuwerfen, unterstellt er ihnen lieber Dummheit – nur, um nichts hinter dem Gerede suchen zu müssen und den Schein zu wahren.  Satirische Fernsehsendungen, zB Hildebrands „Scheibenwischer“ suggerieren diese Haltung.

Auf der Bühne der Regierenden wird ein anderes Stück, als das der „Demokratie“ gespielt. Ohne daß der Wähler je gefragt wurde, ja ohne daß er es bemerkte, wurde beispielsweise über ihn hinweg entschieden, daß die deutsche Sprache zugunsten einer Weltsprache (Englisch) abgeschafft wird. 1 Noch heute glauben die meisten Leute, der Siegeszug der englischen Sprache sei eher dem Zufall, als einem politischen Willen zuzuschreiben.

4. Erschaffung eines Geschichtsbildes   

Das oben genannte Bühnenstück namens ‘Demokratie’ bildet in den Köpfen der Bevölkerung eine falsche Vorstellung von der gegenwärtigen Welt. Und da die Gegenwart als Extrapolation aus der Vergangenheit gesehen wird, trachtet die Elite stets danach, auch auf das Geschichtsbild Einfluß zu nehmen. Dabei muß nicht unbedingt gefälscht werden; es reicht völlig, aus dem schier unendlich komplexen Geschehen der Vergangenheit den erwünschten Mythos gezielt zu selektieren.

Der französische Arzt  Gustave Le Bon schreibt in seinem Buch „Psychologie der Massen“:

„Aus dem Vorstehenden folgt klar, daß die Geschichtswerke als reine Phantasiegebilde zu betrachten sind. Es sind Phantasieberichte schlecht beobachteter Ereignisse nebst nachträglich ersonnenen  Erklärungen. … Die legendären Helden, nicht die wirklichen Helden haben Eindruck auf die Massen gemacht. Leider sind die Legenden selbst nicht von Dauer. Die Phantasie der Massen formt sie je nach den Zeiten und den Rassen um. … Diese Wandlung erfolgt oft innerhalb weniger Jahre. Wir haben in unseren Tagen erlebt, wie sich die Legende eines der größten Helden der Geschichte (Napoleon) in weniger als fünfzig Jahren wiederholt verändert hat“ und Le Bon beendet das Kapitel mit der Feststellung, „daß die Geschichte nur Mythen zu verewigen vermag.“ 2

Es gilt also nicht der Satz „Aus der Geschichte lernen“, sondern „Geschichte machen!“ Die Geschichte wird stets von den Siegern geschrieben.

Ist eine Geschichte erst einmal in den Köpfen der Bevölkerung installiert, strickt sich ihre implizite Logik selbständig fort. Wir können daran sehen, wie Zukunft gemacht wird.

An den Arbeiten der Geschichtsforscher, die nach Maßgabe ihres ihnen unbewußten Wertesystems ihre sog. „Fakten“ erheben und daraus ein „empirisches“ Bild von der Vergangen-


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heit konstruieren,  können die eingeweihten Politiker ablesen, wie der momentan für real gehaltene Mythos aussieht. Diesen brauchen sie dann nur zu extrapolieren, um zu sehen, ob ihr mythologischer Zukunftsentwurf noch ihren Wünschen entspricht.

5. Vom Mythos zur Methode

Bis zum Ende des Mittelalters war noch die Kirche für die Erschaffung der zu glaubenden Mythen zuständig. Mit brutalster Gewalt wurde aller Zweifel an ihrem Wahrheitsgehalt ausgerottet.

Vor etwa 300 Jahren wurde hier jedoch eine geniale, aber auch gefährliche Vereinfachung eingeführt. Statt den herrschenden Mythos willkürlich weiter zu gestalten, hatte man sich ganz auf die Überwachung der Einhaltung einer simplen Methode festgelegt, nämlich der des rationalen Empirismus (Verschmelzung Bacons Empirismus mit Descartes Rationalismus zur „modernen wissenschaftlichen Methodik) 1. Nur diese Methode galt als wissenschaftlich; alles andere wurde diffamiert und verschwand mehr und mehr aus dem Bewußtsein der Menschen.

Die Frage nach dem „wie?“ löste die nach dem „warum?“ ab. Man fragte nicht mehr nach Gründen, sondern nach kausalen „Ursachen“ – also nach den Zuständen vor dem befragten Zustand. Das heißt, daß die Wissenschaft nichts  erklärt, sondern nur das Werden der Dinge beschreibt. Isaak Newton: „Daß ich die Schwerkraft nicht erklären kann, ist irrelevant!“  2 Auf diese Weise führte die Wissenschaft zu einem Erklärungsnotstand, der kaum bemerkt wurde, da die Menschen zunehmend die Antworten der auf „wie?“ gestellten Fragen mit denen auf „warum?“ gestellten verwechselten.3 Die Wahrnehmung  des menschlichen Willens schwand immer mehr aus dem Bewußtsein der Bevölkerung und  die kausal denkende Vernunft setzte sich durch. Die Folge davon war, daß sich für die willensgesteuerte Machtelite riesige und für das Volk trotzdem kaum erkennbare Freiräume für ihre Willensentscheidungen eröffneten. Was die Mächtigen wollten, sahen die Regierten zunehmend als vernünftige Reaktionen auf  Sachzwänge – und waren eher bereit, deren Entscheidungen zu tolerieren.

Der Wechsel vom „warum“ zum „wie“ kommt dem Verzicht auf bzw dem Verlust einer  ganzen Dimension des Lebens gleich.4 „Wie“ – Fragen bleiben der materiellen Ebene verhaftet; „warum“- Fragen richten sich auf eine geistige Dimension darüber. So entstand in den Köpfen der Menschen ein völlig materialistisches Weltbild, das aller geistigen Größen entbehrt. Es enthält weder Bewußtsein, noch ethische Werte, also nichts, was die ana-


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lysierte, zerstückelte Welt zusammenhalten könnte. Hirnforscher Wolf  Singer: „…alle Hirnleistungen – einschließlich der höchsten geistigen und psychischen Funktionen – (sind) auf die Wechselwirkungen  von Nervenzellen zurückzuführen, die den bekannten Gesetzen von Physik und Biochemie folgen.“ 5 Wer vermag schon der Physik zu widersprechen? Der auf diese Weise aller Selbstführung verlustig gegangene Mensch ist dann angewiesen auf äußere Regierung durch jene,  die sich von den o.g. „Zwängen“ der Naturgesetze nicht haben ihren WILLEN austreiben lassen.6

6. Psychologie der Masse

Nach Gustave Le Bon schließt sich eine Menge isolierter individueller Menschen zu sozialen Gruppen zusammen, die unbewußt ihre individuellen Gedanken, Wünsche, Einstellungen usw einander angleichen, d.h. ihre persönlichen Gedanken werden in einer Art gemeinschaftlicher Hypnose aufgegeben zugunsten denen der Gruppe –   nun Masse genannt.

Le Bon fand nun heraus, daß die Intelligenz dieser Masse nicht etwa der durchschnittlichen Intelligenz der Einzelpersonen entspricht, sondern einem wesentlich niedrigerem Niveau, wobei sie zugänglich für (demagogische) Suggestionen werden. Dabei würde es keine Rolle spielen, wie intelligent nun die Einzelpersonen waren:

„… und die Abstimmung von 40 Akademikern über allgemeine Fragen gilt nicht mehr als die von 40 Wasserträgern.“ 1. Weiter schreibt Le Bon: „Die Massen haben nur eingeflößte, nie vernünftige Meinungen“ 2 und schließt daraus: „Ohne Zweifel sind die Abstimmungen der Massen oft recht gefährlich.“ 3 Und da die Masse der Vernunft mit ihren Begründungen oder gar Beweisen nicht zugänglich ist, haben die Führer lernen müssen, eine direkte Kommunikation mit dem Unterbewußtsein der Menschen aufzubauen.

„Der unbekannte Redner, dessen Rede gute Beweisgründe, aber nur Beweisgründe enthält, hat keine Aussicht, auch nur angehört zu werden.“  4 Die direkte Wirkung auf das Unbewußte erlangt man über  Bilder,  bildhafte Sprache, Posen, Gesten usw. Le Bon schreibt:

„Er muß eine besondere Beredsamkeit besitzen, die aus energischen Behauptungen, die nicht zu beweisen sind, und eindrucksvollen von ganz allgemeinen Urteilen umrahmten Bildern zusammengesetzt ist 5.  „Schon öfter haben wir die besondere Macht der Worte und Redewendungen betont, die so gewählt wurden, daß sie nur recht lebhafte Bilder hervorrufen.“ 6

Daß diese beinahe 80 Jahre alten Erkenntnisse Le Bons auch heute noch Gültigkeit haben, zeigt der SPIEGEL Nr. 46/1997, wo der Politologe Thomas Meyer schreibt: „Letztendlich belohnt der Wähler mit seiner Stimme nicht die beste Politik, sondern den besten Inszenierer“ und verweist auf die gestellten Posen und Bilder in den Massenmedien. Er schließt sein Statement mit den Worten: „Das genuin Politische, das Formulieren neuer Gesetze, das Ringen um Entscheidungen entzieht sich dagegen der öffentlichen Wahrnehmung und findet in geheimen Zirkeln und Hinterzimmern statt.“ 7

Rudzio bestätigt: „Offene Diskussion und Entscheidungssuche verlagern sich hinter die


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geschlossenen Türen der Fraktionssäle.“ 8

   Rudzio, Meyer und Le Bon unterscheiden also klar zwischen „Inszenierung“ und „wahrer Politik“.

 Die Inszenierung  geschieht, um der Masse die Illusion von Macht vorzugaukeln, ohne sie wirklich daran teilhaben zu lassen. Zu diesem Zweck wurde der Mythos „Demokratie“ erfunden. Innerhalb ihrer Strukturen sollen sich die vielen kleinen Wünsche der Millionen Individuen neutralisieren. Letztendlich wählen die Wähler nur Ämter; diese aber sind im wahren Spiel der Mächte bedeutungslos.

 7. Wurzeln der politischen Kultur

Mir ist bewußt, daß ich mit diesem „Referat“ nicht das referiert habe, was wahrscheinlich erwartet wurde, nämlich das Kapitel über politische Kultur im „Rudzio“ und anderer, ähnlicher Bücher. Aber es erschien mir töricht, etwas nachzubeten, was im Handumdrehen nicht einmal mehr den Hauch einer Bedeutung haben könnte. Die zB im Rudzio abgedruckten Analysen und statistischen Erhebungen über die „fünf verschiedene(n) Dimensionen“ der politischen Kultur:

– „die Einstellungen zur politischen Gemeinschaft,
– die Einstellungen zum politischen System,
– Umfang und Formen politischer Beteiligung,
– die politischen Entscheidungsmuster und
– den Homogenitätsgrad der politischen Kultur“ 1

sind allzu oberflächlich („Meinungen“…), um als „Kultur“ bezeichnet werden zu können, denn eine Kultur hat Wurzeln, die tief reichen und eine feste Stütze abgeben. Was hier unter „Kultur“ firmiert, ist nichts, als ein wurzelloser Steckling, den jeder Windhauch zum Kippen bringt! Ließe man einem einzigen geschickten Demagogen freien Lauf, wäre innerhalb dreier Wochen alles zunichte, was heute stolz „politische Kultur“ genannt wird. Der Glaube, bzw. die Einstellung des Bürgers zum politischen System ist sehr labil. Das einzige Festverwurzelte, das ich bezüglich politischer Kultur kenne, ist die Autoritätsgläubigkeit, bzw. Machtverehrung.

Im Wissen darum, daß das politische System äußerst zerbrechlich und zugleich ein Spiegel der Massenseele ist, kann ich kein Interesse daran haben, diesen „Steckling“ auszureißen – eher die Hoffnung, er werde anwachsen und gedeihen. Rahmenvorgaben sind nun einmal nötig; und das Volk ist nicht mehr und noch nicht reif zur Eigenverantwortung.

Was wir in den Medien und im „Rudzio“ erleben, ist jedoch die Vortäuschung der falschen Tatsache, der Steckling sei bereits angewachsen – Politiker und Wähler dächten im Grunde ähnlich. Wenn Rudzio über die pol. ‘Einstellung der gesellschaftlichen Führungsgruppen’ 2 schreibt, sie sei im Ganzen nur etwas links von der der Wählerschaft, kann das wohl nur ein Witz  sein, es sei denn, meine Einschätzung der Elite wäre völlig verfehlt! Was nützen Statistiken über die Selbstauskunft von Parlamentariern, wenn nicht die Glaubwürdigkeit ihrer Angaben überprüft wurde?

Festverwurzelte Strukturen sind jene, die selbst in Krisenzeiten noch eine gewisse Stabilität aufweisen: die Familie, der Freundeskreis, der Hang, sich einem Führer unterzuordnen, der es versteht, seine ‘Argumente’ derart zu vereinfachen ( zu radikalisieren) , daß sie


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den Emotionen seiner Zuhörer zugänglich werden. 

8. Das Primat der Ökonomie

In fast allen Diskussionen  – seien es nun politische oder wissenschaftliche – wird heute kaum noch das Primat der Ökonomie angezweifelt. Politik und Wissenschaft können heute fast nur noch innerhalb ökonomischer Strukturen gedacht und ausgeübt werden und werden dadurch blockiert. „Nie war Mündigkeit ein Ideal der Industriemonopole und ihrer Verbände.“  3 Der auf Seite 2 genannte rationale Empirismus ist fast ganz unter die Vorherrschaft der ökonomischen Logik gefallen. Die Ökonomie beruft sich immer noch auf einen falsch verstandenen Darwinismus 1 und denkt in mechanistischer (Newton’scher) Weltsicht und ist daher völlig ungeeignet, Probleme zu erkennen oder gar zu lösen, denn „Jeder Kampf führt notwendig zu einer gegenseitigen Verdinglichung der Subjekte.“ 2 Die Katastrophen, auf die wir zueilen, sind Beweise für die gescheiterten Lösungsversuche der Ökonomie. Alles fällt ihrer toten und daher todbringenden „Logik“ zum Opfer: Erst die Natur, dann der Mensch, dann die Ökonomie selbst. Die Politik ist ihr schon lange zum Opfer gefallen. Nur noch ihr Kleid ist übrig; und unter diesem Deckmantel verbergen sich Ökonomen, die alle Andersdenkenden unter ihre Knute zwingen. Der Kommunismus wurde ökonomisch besiegt. Ebenso die Demokratie, die freie Forschung, das Bildungsbürgertum usw usw. Alles ist zur Ware verkommen, deren Wert an Verkäuflichkeit gemessen wird. Wirtschaftlichkeit ist die einzige Realität, die anerkannt wird. Getan wird nur noch das, was „sich rechnet“. Man hat vergessen, was „Leben“ ist. Immer mehr Menschen scheinen anzunehmen, unbesorgt auf Kosten der Allgemeinheit (Mitmenschen, Natur, Staat) leben zu können. Doch was soll man anderes tun, wenn man seine Lebenswelt nur noch durch die ökonomische Brille sieht? Die Nutzung, bzw. Ausbeutung des Egoismus der Bevölkerung (Karriere…) wird scheitern.

Der französische Historiker Le Roy Ladurie sagte unlängst im SPIEGEL: „Die französischen Sozialisten haben keinen Tony Blair hervorgebracht, der dem Glauben an den Staat weitgehend abgeschworen hat. Bei uns (in Frankreich) hat sich die Wirtschaft immer noch nicht aus dem Griff des Staates befreien können.“ 3 Dies sei ein ‘Erfolg’ der Regierung aus Sozialisten, Kommunisten und Grünen. Le Roy Ladurie befürchtet allerdings das Scheitern aller politischen Bemühungen, Kontrolle über die Wirtschaft zu behalten.4

Und in Deutschland hat – wie in Groß Britannien – die Regierung gegen die Macht der Wirtschaft bereits resigniert. Das soziale Netz – die Solidarität der Menschen – wird zerrissen.

Die Folge dieses Prozesses wird, wenn nicht gegengesteuert wird, Krieg sein. Daher ist es ist unbedingt nötig, dem Materialismus einen Widerpart gegenüberzustellen: Spiritualität, die die Individuen erkennen läßt,


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– daß sie Teil eines Kollektivbewußtseins sind, ohne das sie nicht leben können,

– daß der freiwillige selbstgesuchte Dienst an diesem Gemeinschaftsgeist die einzige Möglichkeit ist, sein Schicksal zu erfüllen,

– daß es letztlich nur ein einziges Kriterium für ‘Wahrheit’ gibt: die lebenslange Suche nach innerer Harmonie mit sich und der Welt, wozu es nötig ist, im Lebensvollzug das Geheimnis der Paradoxie zwischen Materialismus und Spiritualismus zu lösen.

9. Schluß

Da zwischen den beiden ‘Bühnen’ eine gewisse Durchlässigkeit besteht und das politische System die Höherentwicklung des Einzelnen und der Gesamtheit nicht wirklich versperrt, kann diese o.g. Inszenierung namens Demokratie durchaus akzeptiert werden. Allerdings müssen noch Rezepte erfunden werden, wie das System vor den  Gefahren der modernen Wirtschaftstheorie1 geschützt werden kann.

Auch Le Bon lehnt die Inszenierung der demokratischen Systeme keineswegs ab. Im Gegenteil: Er sieht sie als das beste an, was es im Angebot an möglichen politischen Systemen gibt.:

„Trotz aller Schwierigkeiten ihrer Arbeitsweise bilden die Parlamentsversammlungen die beste Regierungsform, die die Völker bisher gefunden haben, um sich vor allem möglichst aus dem Joch persönlicher Tyrannei zu befreien.“ 2

Literaturverzeichnis:

1) Rudzio, Wolfgang: Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1996, 4. Auflage
2) Le Bon, Gustave: Psychologie der Massen, Kröners Taschenausgabe Bd. 99, 15. Auflage, 1982
3) Berman, Morris: Wiederverzauberung der Welt, deutsch 1985, rororo TB Nr. 7941
4) Vester, Frederic: Das vernetzte System
5) Sloterdijk, Peter: Kritik der zynischen Vernunft, 1983, Bd 1, edition suhrkamp, Nr. 1099


Fußnoten

1)       Rudzio, Wolfgang: Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1996, 4. Auflage, S.457 – 542
2)        2) ebd. S. 485
3)       3) ebd. S. 208


2

1  a.a.O. Rudzio, S. 485
2  Sloterdijk, Peter, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, Bd. 1, edition suhrkamp, Nr. 1099, S. 46
3  zum Beispiel die Partei „Die Grünen“: Gegen Ende der ’70er Jahre trat zunehmend eine indifferente Protestbewegung in Erscheinung, mit Inhalten, die offensichtlich nicht genügend von den etablierten Parteien abgedeckt waren. Allerorten bildeten sich spontane Aktionsgruppen, die gegen den Rüstungswahn oder umweltzerstörende technische Großprojekte – Landebahnen für Flughäfen, Kernkraftwerke – demonstrierten. Andere kämpften für die Emanzipation der Frau, gegen Tierversuche oder Ölverklappung in der Nordsee.  Da die etablierten Parteien aus Rücksicht auf die Industrie diese Protestbewegungen nicht für sich thematisieren und in Anspruch nehmen konnten, förderte die politische Elite die Gründung einer Umweltschutzpartei. Diese Partei – die GRÜNEN – diente als Sammelbecken für fast das gesamte Protestpotential. Die Anpassung der neuen Partei an die Bedingungen, die für eine Zulassung zu Bundestagswahlen gestellt sind und die sich einstellende Routine bei der alltäglichen politischen Arbeit bewirkte, daß sich bei der Personalstruktur die sog „Realisten“ gegen die „Fundamentalisten“ durchsetzten. (Der Verdacht, die Grünen könnten von den „Realos“ auch unterwandert worden sein, ist zwar gegeben, aber nicht zwingend.) Am Ende war die Protestbewegung  jedenfalls vom politischen System aufgesogen und neutralisiert. Die Partei der Grünen ist heute auf Seiten derer zu finden, gegen die ursprünglich der Protest gerichtet war.
4  a.a.O. Rudzio, S. 48
5 ebd. S. 66
6 ebd. S. 172 ff


3

1  Neue Zürcher Zeitung v. 31.12.97, S. 27, rechte Spalte: Bundespräsident der Schweiz Flavio Cotti: „Englisch wird zur Weltsprache, das ist eine Tatsache.“
NZZ v. 13.1.98, S. 5, rechte Spalte: Ernst Zahn: „Immer mehr Englisch sprechende Dozenten und Studenten, englisch geschriebene Dissertationen, Lehrbücher und Wirtschaftsberichte, der Tourismus … illustrieren den Trend.“
2)  Le Bon, Gustave: Psychologie der Massen, Kröners Taschenausgabe Bd. 99, 15. Auflage, 1982, S. 29


4

1  Prof. Dr. Berman, Morris: Wiederverzauberung der Welt, deutsch 1985, rororo TB Nr. 794, S. 35 ff.
2 ebd. S. 44
3 vgl. ebd. . S. 26
4 vgl. ebd. S. 46
5 Prof. Singer, Wolf, Dialog der Gehirne, in: Bild der Wissenschaft, Nr. 7/1997, S. 68
6 Morris Berman schreibt: „Die mechanistische Philosophie und die Trennung zwischen Ding und Wert fanden ihren unmittelbaren Platz in den Richtlinien der Royal Society.“ Nach diesem Vorbild wurde die französische Akademie der Wissenschaften gegründet, und auch bei ihr „war der Begriff der wertfreien Wissenschaft Teil einer politischen und religiösen Kampagne zur Aufrechterhaltung der bestehenden gesellschaftlichen und kirchlichen Struktur Europas. … Die Durchschlagskraft der mechanistischen Weltauffassung  kann keinem ihr möglicherweise innewohnenden Sinn zugeschrieben werden, sondern ist (teilweise) das Ergebnis eines mächtigen Angriffs von Seiten der Politik und Religion auf die hermetische Tradition, ausgeführt von den herrschenden europäischen Eliten.“ (S. 119 ff)   „… Aber aus politischen Gründen sah es Newton als notwendig an, diesen Teil seiner Persönlichkeit und seiner Philosophie (okkulte, alchemistische Überzeugungen, ein Glied in der Kette der Magier zu sein (4/126)) zu unterdrücken und die nüchterne Fassade eines Positivisten zur Schau zu tragen. (S. 125)  „Man könnte sagen, daß Europa, nachdem es die Newton’sche Sicht der Welt übernommen hatte, geschlossen den Verstand verlor.“ (4/129)


5

1  Le Bon, Psychologie der Massen, S. 235
2  ebd. S. 135
3  ebd. S. 134
4 ebd. S. 144
5  ebd. S 141
6 ebd. S. 142
7  Meyer, Thomas, Ein höfisches Zeremoniell, in DER SPIEGEL Nr. 46/1997, S. 152 ff
8  a.a.O. Rudzio, S. 228


6

1 a.a.O. Rudzio, S. 518
2 ebd. S. 502
3  Sloterdijk, Peter, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, Bd. 1, edition suhrkamp, Nr. 1099, S. 45


7

1 Im falsch verstandenen Darwinismus wird vom Überleben des Stärkeren – Survival of the fittest – ausgegangen. In Wahrheit sterben jedoch jene Spezies aus, die sich vom vernetzten System des Weltganzen isolieren, und das sind häufig gerade jene o.g. „fittesten“! Da  das EGO des Menschen Produkt seiner Abgrenzung vom andern ist, kann gefolgert werden, daß das, worauf die „Fittesten“ so stolz sind – Ihr EGO – den Keim ihres Untergangs enthält.
2  a.a.O. Sloterdijk, S. 54
3   Le Roy Ladurie, Nichts gelernt, nichts vergessen, in DER SPIEGEL Nr. 44, v. 27.10.1997, S. 186
4  ebd. vgl. S. 186 – 193
5  Prof. Dr. Vester, Frederic, Das vernetzte System,


8

1 Es ist offensichtlich, daß die heutige Wirtschaft 1. auf Geschwindigkeit, 2. auf Wachstum und 3. auf Spezialisierung setzt. Da unbegrenztes Wachstum nicht möglich ist, wird die Geschwindigkeitszunahme das Herankommen des Zusammenbruchs beschleunigen. Die exponentiell steigenden Staatsschulden, die unmöglich jemals zurückgezahlt werden können, werden durch ihre asymptotische Annäherung an Unendlich das Finanzsystem, dann das Wirtschaftssystem und dann das damit verbundene politische System samt der politischen Kultur zum Zusammenbruch führen, wenn nicht schleunigst die bewußtseinsprägende Macht des ökonomischen Systems zurückgedrängt wird. Das (beschränkte, reduzierende) ökonomische Denken setzt die „Sachzwänge“, die kreative Lösungen verhindern. Eine weitere Gefahr ist die der zunehmenden Arbeitsteilung, bzw des Spezialistentums. Der Einzelne verliert zunehmend den Überblick über das Weltganze mit der Folge, daß er nicht mehr wirklich weiß, was er tut. Die Arbeitsmotivation verflacht; das System, in das er eingebaut ist, wird instabil, da das Bewußtsein der Einzelnen verschwindet.
2 a.a.O. Le Bon, S. 147


 

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