Was ist geschehn mit meinen Augen? Ich kann sehen zwar, doch alles scheint seltsam und fremd. Eben noch war ich am Meeresstrand, nun seh ich mich kletternd auf einem Berg. Der Stein in meiner Hand ist gewöhnlich, aber bedenk ich ihn nicht, so verschwindet er gleich. Merk ich’s, ist er wieder da, doch ist’s noch derselbe?
Ich wünsch mir den Gipfel herbei. Schon stehe ich oben und genieße den herrlichen Ausblick: Unendliche Wälder, Seen und Berge, Wolken und Meer. Ich suche eine Stadt und finde sie, wohin mein Blick zielt.
„Menschen!“ denk ich, da steh ich schon mitten im Großstadtgewühl! Ich prüfe die Hand: Sie ist echt. Aber doch muß es eine Traumwelt sein! Vermutlich schlafe ich, sicher sogar, denn fühl ich nicht deutlich die Decke des Bettes?
Nein, ein Traum ist es nicht! Wirklich sind die bildlichen Vorstellungen, und wirklich erlebe ich meine Gedanken: Offenen Auges erinnere ich meine Vergangenheit:
Tausend Rinnsale durchflochten die fruchtbare Ebene des Paradieses, zeitlos-ewig im Wandel und doch bleibend. Dann geschah das Unglück: Starke Regen vom Meere brachten Überfluß, und ihre Wasser teuften ab fünf Rinnsale zu Gräben! Unvergeßliche Steine rollten hinab, zerstörend Lebendiges. Tiefer noch schürften diese die Gründe. Die dunklen Wasser schwollen an zu Strömen und rissen alles hinab ins Totenmeer. Den Rinnsalen versiegten die Quellen, und mit ihnen starb das Paradies. Heiße Wüstensande durchstoben die einstmals so klare, erfrischende Luft und verhüllten die Sonne.
Jetzt sind sie niedergerissen, die Dämme und aufgefüllt die Gräben, die Wasser des Lebens gesammelt zum blauen Meer. So löse ich auf das geschiedene Wissen in verstehendes Denken und verbinde die Zeiten zum vollkommnen Raum.
Behutsam sammle ich mein zerstreut umherspringendes Bewußtsein und trenne mich ab von der Welt. Gedanken entstehen. Sie erschaffen Empfindungen und diese den Leib. Langsam tief atmend, sitzend am Meer, übe ich Fühlung, während die Augen dem Wellengang folgen, die Ohren das Tosen der Wasser vernehmen, die Nase den frischen Geruch des Tanges genießt, die Zunge das salzige Spitzwasser schmeckt und die Haut den zarten Wind berührt.
Ich greif in den warmen, trockenen Sand und bewahre die Schönheit der Natur und den leichten Stolz, der sie hält, denn Stolz gibt der neuen Welt Dauer. Die mächtige Sonne im blauen Himmel ist mein. Ich wünsch mir als Lehne den Stamm einer tausendjährigen Eiche; schon ragen bizarre Äste über mein Haupt und spenden wohligen Schatten. Hundert Jahre werd ich hier bleiben, ruhigen Gemüts die Gedanken klären und meine Welt erbauen. Hier ist es leicht, denn Irrtümer werden hervorbrechen aus unterirdischen Schlünden, und sie werden versuchen, diese Welt zu zerstören.
Ich weiß es wohl! So werde ich nach und nach meinen persönlichen Geist zulassen und mit ihm die Drachen meiner Ängste, die Kraken meiner Verachtung, den Durst meines Neides, das Eis meines Stolzes, die Ketten und Foltern meiner gesellschaftlichen Anpassung, die Feuersbrünste meiner Leidenschaften und die toten, verfallenen Städte meines Wissens. Wüßte ich’s nicht, wär ich gehetzte Beute der gierigen Dämonen wieder und wieder, Leben für Leben und bekäme nie Ruhe zu läutern den Geist!
Oh, wird es gelingen, all diese Dämonen zu verschlingen? Wird es gelingen, zu bilden ein paradiesisches Land? Wird’s endlich gelingen nach so vielen tausend Versuchen? Oder wird es wieder heißen, nachdem ich das Äußere nach innen gekehrt habe und danach wieder in die Welt der Bewährung geboren bin:
„Wollen habe ich wohl, aber das Rechte vollbringen kann ich nicht. Denn das Rechte, das ich will, das tue ich nicht, sondern das Falsche, das ich nicht will, das tue ich. Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem todverfallenen Leib?“ (s. Gedicht „Innen Welt“)
Hans-Joachim Heyer