Hans-Joachim Heyer

Verkehrte Welt

Es war einmal eine Welt, sie hieß „Yllysien“. In ihr war alles genau anders herum, als auf der Erde: Die Yllysier waren ungeboren, unsterblich und vermehrten sich natürlich auch nicht. Alle Gegenstände in ihrer Welt waren phantomartig wie farbiger, formhafter Nebel oder wie Regenbögen. Man konnte mit der Hand hindurchgehen, als wären sie nichts. Und so ungreifbar und unberührbar den Yllysiern alle Dinge waren, so fest und hart waren in dieser umgekehrten Welt ihre Gedanken.

Einen richtigen Apfel beispielsweise konnten die Bewohner Yllysiens nicht anfassen oder gar essen, aber sie konnten sich einen denken, und dieser war fest und saftig und natürlich auch ‚eßbar‘. Kannst du dir so eine komische Welt vorstellen, in der das Reale ungreifbar und das Irreale fest ist?

Der Yllysier Demiok, der es leid war, so viele Dinge um sich zu sehen, die er nicht anfassen und nicht haben konnte, stellte sich deshalb in einer Art Traum eine ganze Gedankenwelt vor, eine Gedankenwelt mit Bäumen, Bergen, Wiesen und Feldern, einem großen Meer mit warmem Wasser, in dem er baden konnte und am blauen Himmel eine wärmende Sonne. Es war eine Welt wie unsere Erde. Dort erfüllte sich Demiok alle Wünsche, die sich in seinem Geist regten.

Er dachte sich ein Pferd und ritt mit ihm durch die Prärie; er stieg auf einen zehntausend Meter hohen Berg und überhaupt, er lebte wie im Paradies. Und wenn Demiok ’schlafen‘ ging – was in Wirklichkeit natürlich das Aufwachen war -, dann dachte er ein paar Stunden lang nicht an seine Gedanken und schon war die feste Welt nicht mehr da; stattdessen das komische Yllysien, an dem er immer mehr sein Interesse verlor.

Jeden Tag machte Demiok seine Welt vollkommener und bewahrte sie am Abend, wenn er schlafen ging, fest in seiner Erinnerung, so daß sie am nächsten Morgen wieder in strahlendem Licht erschien. Bald überlegte er sich, welche Welt nun die wirklichere sei: Die, wo er alles anfassen konnte oder die, wo alles ungreifbar war, und er kam zu dem Ergebnis, daß die Gedankenwelt echt und Yllysien bloß Phantasie sei. In Yllysien gab es weder Hunger, noch Durst, weder Lust, noch Leid, kurz: Es gab dort überhaupt keine Wünsche. Deshalb schuf sich auch dort kaum jemand seine Gedankenwelt. „Wozu denn?“ wunderte man sich dort bestenfalls und schüttelte verständnislos den Kopf.

Täglich schwärmte Demiok seinen yllysischen Freunden von seiner schönen Gedankenwelt vor und erzeugte so, ohne es recht zu begreifen, auch in ihnen viele Wünsche. So wurden immer mehr Yllysier unzufrieden, bis sie ebenfalls begannen, sich Gedankenwelten zu schaffen. Dann dauerte es nicht mehr lange, bis sie sogar darum zu streiten begannen, welche nun die beste und schönste sei, und es entbrannte ein großer Glaubenskrieg. Die Folge dieses Krieges war, daß sich die vielen Gedankenwelten immer ähnlicher wurden und sich allmählich zusammenschlossen. Die Bewohner dieser neu entstehenden Welt nannten ihre neue Heimat schließlich ‚Muteria‘ und sich selbst “Muterianer‘. Es war eine Welt der Wünsche, der Ängste und der Kriege. Yllysien nannten sie von da an verächtlich ‚Illusion‘ oder ‚Traum‘.

Vielleicht hatten die alten ‚Yllysischen Weisen‘ doch recht gehabt, als sie behaupteten, bald würde Yllysien untergehen, denn es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis alle nur noch an die Gedankenwelt glauben und vergessen würden, daß sie Muteria selbst erschaffen hatten. Der große Alassiok soll sogar gesagt haben:

„Die Yllysier verlernen, wie man denkt und werden folglich zum Spielball ihrer eigenen Welten. Die Gedankenwelten werden in ihren Augen so mächtig, bis sie glauben, ihre Projektionen seien unabhängige Dinge, die man bedenken müsse. Damit verwirren sie den letzten Rest ihrer Intelligenz! Oh welch‘ Torheit, Gedanken zu bedenken, statt sie nur zu kennen! Und sie werden es ‚Klugheit‘ nennen, diese Narren!

Ja, die Bewohner dieser Welten werden sich zusammenschließen und sogar eine ‚Wissenschaft‘ erfinden, in der genau festgelegt ist, wie der Einzelne ‚denken‘ darf und wie nicht. Ihre geistige Verwirrung wird sie von den Verführern abhängig machen und dazu bringen, in ihrer selbst erschaffenen Welt als gequälte Sklaven von Sklaven zu leben.

Am Ende wird es nur noch eine einzige Gedankenwelt geben. Alle anders Denkenden werden überzeugt oder ausgerottet und unser geliebtes Yllysien in das Reich der Träume verbannt sein.“

Demiok verstand zwar, was die Yllysischen Weisen sagten, aber er verstand es nicht mehr, mit seinen Projektionen zu spielen. Allzusehr waren seine Gedanken mit ihren eigenen Schöpfungen beschäftigt. Sie konnten sich nicht mehr von ihnen lösen. So hatte Demiok, der Unsterbliche, sich sein eigenes Grab geschaufelt. Er wußte es, aber er konnte es nicht mehr ändern.

„Dort ist die große Sonne am Himmel!“ weinte er. „Dort ist sie und wärmt mich. Hier halte ich einen Stein in der Hand. Ich sehe und fühle ihn deutlich. Wie könnte ich jetzt denken: Es ist keine Sonne!? Es ist kein Stein!? Es ist keine Hand!? Wohl habe ich einmal so zu denken vermocht, aber ich vermag es nicht mehr. Ich bin nicht mehr frei in meinen Gedanken, ich habe mich im selbst gestrickten Netz des Wissens gefangen, ich habe mich zum Spielball einer Welt gemacht, die grausam ist und mir nicht mehr gehört. O ich Verfluchter! Wie kann ich, den die Sehnsucht nach Yllysien zerreißt, wunschlos werden? Wie überwinde ich diese Welt des Todes?“

Von den Muterianern heilig gesprochen, wußte er jedoch, daß er in Wahrheit der größte Sünder war. Milliarden Yllysiern, die sich jetzt Muterianer nannten, hatte er den Tod gebracht, und sie verehrten ihn auch noch dafür! Welch ein Wahnsinn! Er sagte es ihnen. Er sagte es ihnen tausendmal, aber sie hatten für ihn nur noch verständnislose Ehrfurcht übrig und für alle, die ihm wirklich nachstrebten, Verachtung, Hohn und den Scheiterhaufen. So zog er sich in eine Einsiedelei zurück und übte Entsagung. Es hieß, er sei nach vierzig Tagen verhungert. Aber ich weiß, daß das nur bedingt stimmt, denn in Wahrheit hatte er sein Yllysien wieder. Gestern Nacht nämlich begegnete mir Demiok im Traum. Er sagte:

„Einen Augenblick war ich in Dunkelheit gehüllt, mein Freund. Wie war es möglich, daß ich mich für eine unbedeutende Sekunde meines Lebens einen Muterianer nennen konnte? Wie konnte es geschehen, daß für eine verschwundene Zeitspanne das Denken und die Zeit fast erstarben? Preise dich glücklich, daß die Wächter der Zeit, die Yllysischen Weisen, den endgültigen Tod noch verhindern konnten, denn sie sind es, die der Wissenschaft ständig neue Nahrung darbringen. Ohne das ewige Yllysien ist kein Wandel auf Muteria! Preise dich glücklich, denn Erlösung ist gewährt jedem, der sich löst von der Welt.“