Hans-Joachim Heyer

Verschwörungstheorien

So mancher Leser sieht mich als Vertreter einer wachsenden Schar weltverschwörungsgläubiger Irrer, die ihren Verfolgungswahn auf die Außenwelt projiziert und überall auf der Welt Feinde sieht, die den „Verfolgten“ ans Leder wollen. Diese Vorstellung sei den Verschwörungstheoretikern lieber, als die tatsächliche Nichtbeachtung, die sie in ihren ereignislosen, armseligen Leben erfahren würden.

Ich will nicht leugnen, daß es Menschen geben mag, die ihrem Leben durch das Lesen weltverschwörungsenthüllender Bücher ein wenig Würze zu geben versuchen und daß auch ich solche Bücher mit Lustgewinn konsumiert habe, aber auf die Verschwörung bin ich nicht durch sie aufmerksam geworden, sondern durch meine Praxis des täglichen Lebens. Ich habe mir mein Wissen nicht angelesen; ich habe es selbst erfahren. Nur dadurch konnte es geschehen, daß meine von Haßgefühlen besetzte Vorstellung des Begriffs „Weltverschwörung“ einen Wandel vollzog. Heute ist für mich dieser Begriff nicht mehr negativ besetzt, sondern äußerst ambivalent: Er gilt mir als Synonym einer tragischen, schmerzvollen, aber auch abenteuerlichen, spannenden Weltschöpfung. Ich kann die Weltverschwörung weder vorbehaltlos gutheißen, noch radikal ablehnen. Die Welt ist eine Schöpfung aus Gut und Böse; Gleiches gilt für ihre Schöpfer: Wie kann man ihre Lügen Lügen nennen, wenn Realitäten daraus entstehen: reale Welten der Illusion – Illusion für die Eingeweihten, real für die Betrogenen. Und wenn ich diese Welten nur betreten kann, wenn ich bereit bin, mich der Lüge selbstvergessen hinzugeben? Warum sollte ich das Abenteuer nicht wagen?

Doch nun zum Thema: In meiner Jugend, als ich noch ein Linker war, hörte ich abends im Bett gern die kommunistischen Feindsender wie Radio Moskau, Radio Tirana oder Radio Neues Deutschland und ließ mich von deren Propaganda gruseln. Leider hielt das Gruseln nicht lange an. Die Hetze gegen den Kapitalismus und Werbung für den Sozialismus war dermaßen primitiv, daß selbst einem Jugendlichen wie mir schnell klar wurde, daß hier nicht weniger frech gelogen wurde, als im westdeutschen Werbefernsehen.

Die westlichen kapitalistischen Fernseh- und Radionachrichten hielt ich damals noch für propagandafrei, also für objektiv. Erst 15 Jahre später merkte ich, daß in unseren West-Massenmedien beim Thema Politik genausoviel gelogen wurde, wie damals bei Radio Tirana, nur 100 mal raffinierter – und deshalb von kaum einem Menschen bemerkt, selbst heute nicht.

Meine politische Ent-„Täuschung“ setzte ein, als die SPD, vormals Opposition und erklärter Gegner des sog. „NATO-Doppelbeschlusses“, nach welchem die Bundeswehr mit Pershing-Raketen „nach“-gerüstet werden sollte, innerhalb von drei Wochen ihre Meinung radikal änderte, nachdem sie (mit Hilfe der F.D.P.) an die Regierung gewählt wurde. Da wurde mir langsam klar, daß die Politik nicht von den Parteien gemacht wurde und daß alle öffentlichen Verlautbarungen der Politiker leeres Geschwätz waren. Der ewige Streit zwischen Regierung und Opposition war nichts als Schmierentheater: Ablenkung von der wahren Politik. Was weiß denn das Volk von der wahren Politik der Parteien, um kompetent wählen zu können? Nichts! Das Wählen – ja die ganze Demokratie – ist eine Farce, wenn der Wähler nicht in die wahre Politik eingeweiht ist! Was wissen die Wähler von der Geheimdiplomatie und den wahren Problemen des Staates? Nichts! Sie wählen stets die Katze im Sack! Sie ahnen bestenfalls, daß unsere Demokratie nur eine harmlose Show ist, und daß hinter den Kulissen eine brutale Welt lauert. Und sie sind ganz froh, durch diese Kulissen vor den Monstern einigermaßen geschützt zu sein. Warum also sollte man die brutale Wahrheit auf die Bühne zerren? Sie würde nur betroffen machen. Also wählen wir das Schmierentheater, die Demokratie. Diese Wahl muß anerkannt werden, denn diese Wahl ist keine Farce. Die Politiker sind dann nicht mehr zu verachtende Schwindler, sondern sie tun genau das, wozu sie vom Wähler beauftragt wurden: ihn von der Wahrheit abzuschirmen! Die Politiker wissen, daß sie nicht gewählt werden, wenn sie die Wahrheit sagen, sondern weil sie lügen.

Nachdem ich also herausgefunden hatte, daß unsere Demokratie unecht ist, weil die Wähler nicht genügend informiert sind, um kompetent wählen zu können, fragte ich mich, warum die kommunistischen Radiosender, die doch sonst keine Gelegenheit ausließen, unser politisches System schlechtzumachen, diese von mir gefundene Entlarvung nicht für ihre Zwecke ausschlachten. Unsere Demokratie hat so viele wirkliche Mängel. Der größte Mangel ist der, daß das Volk nicht herrscht – nicht herrschen kann und, solange der Einzelne egoistisch ist, nicht herrschen darf! Warum wurde nie über diese wirklichen Mängel gesprochen? Warum entlarvten die Kommunisten unser System nicht wirklich?

Meine Antwort war die, daß ich von Leuten, die den ganzen Tag nichts besseres zu tun hatten, als öffentlich zu lügen, nicht die Wahrheit erwarten durfte. Außerdem waren sie Sklaven einer Gruppe von Mächtigen und hatten sicher nicht die Erlaubnis, bzw die Fähigkeit, die Methoden der Machtausübung zu verraten, die überall die gleichen sind. In diesem Punkt sind sich alle Mächtigen weltweit einig: niemals die Methoden der Machtausübung verraten! Ich begann zu ahnen, daß der Kalte Krieg nur vordergründig – vor den Kulissen – herrschte; hinter den Kulissen wurden andere Spiele gespielt, zB das Spiel der Mächtigen gegen die Völker. Ich entdeckte, daß unsere Politiker unsere Demokratie ebensowenig ernst nahmen, wie die kommunistischen Politiker den Kommunismus, bzw. den Sozialismus! Ihre Taten sprachen für sich: Sie wollten nie Volkes Willen (gibt es den?) durchsetzen, sondern immer nur ihre eigenen. Ihr Demokratie- und Sozialismusgeschwätz diente nur dem Lügentheater.

Gesetzt den Fall, meine Einschätzung der politischen Wirklichkeit stimmt – welche Bedeutung haben dann die vielen Skandale, denen auch Politiker zum Opfer fallen? Sind sie nicht Beweise für gesunde Selbstreinigungskräfte in unserem System? Ist unsere Presse ein Kontrollorgan für die Politik? Haben wir der Presse eine ehrlichere, vertrauenswürdigere Politik zu verdanken, weil sie Machtmißbrauch an den Pranger stellt?

Nein! Nein! Nein! – Leider wurde ich auch hier herb enttäuscht! Es ist zwar wahr, daß die Presse durch Veröffentlichung politischer Skandale langfristig das Vertrauen in die kritisierte Regierung stärkt, aber wahr ist auch, daß die Regierung genau das wünscht. Köpfe sind austauschbar. Hin und wieder wird einer geopfert. Die Presse hat ihren Fraß. Die Politik gewinnt verlorenes Vertrauen zurück. Die Presse kontrolliert nicht die Politik; sie lebt mit ihr in Symbiose. Und die Massenpresse kennt das Gesetz der Macht. Niemals würde sie diese Geheimnisse preisgeben. Journalisten, die von Politikern Interviews wollen, werden sich hüten, sie zu kritisieren. Man spuckt nicht in den eigenen Freßnapf! Die Presse schützt die Politik, von der sie scmarotzt. Deshalb deckt sie nie Hintergründe auf. Presse-Talkshows kommen nie zu Ergebnissen. Manchmal beschleicht mich das Gefühl, die Journalisten glauben, was sie schreiben. Sie haben sich so an ihre hohlen Phrasen gewöhnt, daß sie glauben mögen, sie stellen die einzige Möglichkeit öffentlicher Verlautbarung dar. Man vergegenwärtige sich nur mal ihr Arbeitslosengeschwätz der letzten Jahre. Ja ja, so programmiert man Neurosen…

Unter Weltverschwörung verstehe ich schlicht und einfach, daß dem Volk in Schule und Fernsehen nicht die Wahrheit, soweit sie erforscht ist, gelehrt wird, sondern daß ein Weltbild propagiert und mögliche Kritik daran tabuisiert wird. Den Menschen wird nicht gesagt, daß sie in einem Weltbild leben, sondern ihnen wird weisgemacht, daß sie in der „objektiven Realität“ leben – daß das Bild die Realität sei, und daß sie sich dieser „Realität“ fügen müssen. Dazu wird die Naturwissenschaft in höchstem Maße mißbraucht. Haben die Menschen erst einmal die nat.-wiss. Methode akzeptiert, braucht man sie nicht mehr von Fall zu Fall belügen, wie man es noch bei kleinen Kindern tut; die Akzeptanz der empirischen Methode selbst sorgt dafür, daß die Leute alles ihr Widersprechendes ausblenden. Sie kommen dann von selbst dahinter, daß Träume wertlos sind, daß es eine Seele, Götter und Dämonen nicht gibt, daß Leute, die die Welt mit anderen, als empirischen Augen betrachten, als verrückt zu gelten haben usw.

Die Menschen, die das nat.-wiss. System „gefressen“ haben, erkenne ich daran, daß sie ihre „Sinnkrise“ resignativ „überwunden“ haben. Man paßt sich an – verliert seine Träume, seinen Willen, seine eigene, unverwechselbare Form, also sich selbst. Aber die Umgebung erkennt es an, verleiht dem Angepaßten ein „objektives“ EGO, das nun darauf achten wird, die neue Gestalt zu bewahren. Fortan denkt es nur noch in den Bahnen der öffentlich genehmigten „Vernunft“. In den Fernsehendlosserien wird gelehrt, wie es geht: Jemand hat einen (grundsätzlich verrückten) Willen, macht damit schlechte Erfahrungen und „erkennt“ am Schluß, daß es besser ist, „vernünftig“ zu sein. Seltsamerweise ist diese öffentlich akzeptierte Vernunft höchst irrational, aber wie soll man dies ohne Maßstab bemerken? Vernunft ist unkreativ, langweilig, tot. Je vernünftiger man ist, desto größer ist das Verlangen, ihr zu entfliehen, und desto geringer ist die Aussicht, daß es gelingt: Man flieht in die Fremde – macht Urlaub auf den Bahamas. Aber man erzwingt das Scheitern der Flucht, indem man am Ziel der „Träume“ nicht auf Gewohntes verzichten will: auf das frische Frühstücksbrötchen, auf die Bildzeitung, auf das kühle Bier, auf Recht und Ordnung usw. Das heißt: Man fährt zwar in die Fremde, aber man läßt sie nicht an sich heran; schließlich will man seine Ruhe (Gewohnheit) haben. Was bleibt ist Frust.

Sackgassen der Lebensorganisation wie diese sind den Wissenden bekannt. Aber nirgendwo wird dem darin verirrten Mensch herausgeholfen. Im Gegenteil! Die Industrie und die Politik lebt von Sackgassen. Psychologen, Ärzte und Priester, die es wissen sollten, sind heute die Meister im Verschleiern dieser Sackgassen. Sie sind Systemdiener. Sie sind an arbeitsfähigen, nicht an gesunden Menschen interessiert. Oder haben Sie schon mal erlebt, daß einer dieser Gesellen Ihnen sagt, Ihren wahren Willen herauszufinden und ins Leben einzubringen? Nein! Und wir wissen auch warum nicht: Weil wir sie zum Teufel schicken würden! Schließlich haben wir selbst die größte Angst vor unseren verborgenen Verrücktheiten.

Die Wissenschaft hat schon lange herausgefunden, daß die Welt ein Mythos ist – Geschichten, die die Menschen sich erzählen und auf der Bühne des Lebens spielen – mit Geburt und Tod als Auftritt und Abgang. Aber wehe, jemandem gefällt die Rolle nicht, die er spielen soll und denkt sich eine andere Geschichte aus, in der er sich besser gefällt, dann schlägt die „Weltverschwörung“ zu, indem man von jedermann gezwungen wird, die zugedachte Rolle bis zum bitteren Ende durchzustehen.

Unter „Weltverschwörung“ verstehe ich also, daß es meiner Auffassung nach eine kleine Elite von Leuten gibt, die um den mythischen Charakter der Welt, die die Völker für die Realität halten, nicht nur kennen, sondern auch an dessen Weiterentwicklung beteiligt sind. Alles Gute und Schlechte kommt „von oben“! Ist zB unser Schulsystem marode, dann hat kein Kultusminister oder Schuldirektor versagt: Der Minister hat’s so gewollt, und der Direx wurde entsprechend seiner (UN-) Fähigkeiten erwählt. Ich zum Beispiel habe in der Schule fast nichts gelernt. Warum nicht? Weil die Lehrer selbst nichts wußten und konnten! Weil denen der Lehrstoff langweilig war, wurde er es mir auch. Ich brauchte drei Jahre, bis ich den den entwürdigenden Sportunterricht „verarbeitet“ hatte – und wurde Radrennfahrer! Über zehn Jahre brauchte ich, bis ich den Frust des langweiligen Deutschunterrichts hinter mich gelassen hatte und beginnen konnte, Gedichte und Prosa zu schreiben. Der Religionsunterricht war so mies, daß ich mich jahrzehntelang für einen Atheisten hielt. (Erst vor wenigen Jahren erfuhr ich aus berufenem Munde, daß fast alle christlichen Priester und Lehrer ihren Glauben nur heucheln!). Ich lernte von ihnen natürlich nur den Unglauben – was die Minister und Kirchenheinis genau so angestrebt hatten. Im Biologieunterricht lernte ich nichts als Unfug: Nicht einmal ging’s raus in die Natur! Der Minister wünschte Entfremdung! Sonst wäre ich nicht bereit für den Kapitalismus, der von Naturzerstörung lebt und anders nicht leben kann. Der Pauker wußte von seiner Uni-Gehirnwäsche natürlich nichts.

Aber nicht nur dieser Kindesmißbrauch kommt von oben; auch die sog. „Emanzipation der Frau“ kam nicht etwa von den Frauen, sondern war politisches Kalkül: Die Frauen haben sich nicht befreit; etwas ist mit ihnen gemacht worden, und sie wissen nicht, was! Ich will’s verraten: Sie werden ihrer wichtigsten Rolle, Mutter zu sein, beraubt. Sie werden zu Krüppeln gemacht. sie werden ins Berufslebengeschickt, wo sie ihren eigenen Ehemännern Konkurrenz machen. In wenigen Jahren werden Zwei für einen Lohn arbeiten müssen.

Auch die derzeitige Zerstörung der deutschen Sprache ist nicht vom Volk gewollt! Sie wurde von oben verordnet. Man will die amerikanische Sprache zur Weltsprache erheben. Wir können nun dafür oder dagegen sein. Fakt ist, daß wir nicht gefragt wurden: Weltverschwörung! (Was meinen Sie, wie oft ich schon Wörter wie „Highlights“ oder „Update“ aus Manuskripten, die zur Veröffentlichung in DEGUFORUM (eine Zeitschrift, für dich ich einmal schrieb) eingesandt wurden, getilgt habe! – Wir sind alle Opfer der Sprachzerstörung!) Ich bin gegen eine Weltsprache, weil ich weiß, was wir zu verlieren haben: alles. Wer über die Sprache herrscht, herrscht über alles. Man kann ein Volk nur zerstören, wenn man dessen Sprache zerstört. Hier wird heimlich von oben elementar in unser Leben eingegriffen. Wenn das keine Weltverschwörung ist!

mehr zum Thema: „Tagebuch 10“: Verschwörungstheorien; mehr zur Politik jenseits der Parteien: PolKulturHaus.html
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